Video on Demand:Die Ware Größe

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Mysteriös: Eleven (Millie Bobby Brown) aus Stranger Things. (Foto: Netflix)

Netflix wächst in Rekordgeschwindigkeit. Aber was sagt das über die tatsächliche Nutzung der Streaming-Dienste aus?

Von David Pfeifer

Eine Berufskrankheit von Journalisten, Trendforschern und Politikern: Sie tun gerne so, als wüssten sie, was die Zukunft bringt. Das stärkt ihre Argumente im Heute - und übermorgen kann sich hoffentlich keiner mehr so genau erinnern.

Erst übermorgen also werden wir wissen, ob Internet-Fernsehen, neudeutsch Streaming genannt, wirklich das Ende des linearen Fernsehens eingeläutet hat. Irgendwann wird sich Amazon, Netflix oder ein ganz anderer Anbieter durchgesetzt haben. Und wir erfahren hoffentlich endlich, was aus Eleven wurde, dem mysteriösen Mädchen aus der mysteriösen Netflix-Serie Stranger Things, und wie der Rapper aus The Get Down zum Star werden konnte und ob der Dirigent und die Oboistin sich in Mozart in the Jungle, zu sehen bei Amazon, am Ende doch noch kriegen.

Bisher wissen wir allerdings nur, dass der Streaming-Dienst Netflix die Zahl der Neukunden in den letzten drei Monaten des Jahres 2016 fast verdoppelt hat - laut Netflix-Gründer Reed Hastings auf sieben Millionen. Was bedeutet, dass derzeit 93,9 Millionen Menschen weltweit Netflix abonnieren. Das klingt erst einmal nach sehr viel, wurde an der Börse auch mit einer Zunahme der Aktie bewertet und bleibt am Ende doch so neblig, dass man auch "Mehr für alle!" rufen könnte. Es fehlt nämlich die entscheidende Referenzgröße, um das "mehr" einordnen zu können, beispielsweise deutsche Nutzerzahlen. Ob Netflix hierzulande mit den großen Sendern konkurriert oder doch eher mit den Spartenkanälen Sixx oder RTL Nitro, lässt sich nicht abschließend klären, Letzteres dürfte wahrscheinlicher sein. Auch beim Versandhändler und Videoanbieter Amazon werden gerne Erfolgsmeldungen herausgegeben, wenn eine Serie wie die Auto-Show The Grand Tour gut angenommen wird - ohne konkrete Abrufzahlen zu nennen. Es könnten 900 oder neun Millionen sein. Wobei bei den besonderen Formaten, auch das eine Berufskrankheit, die Berichterstattung und die tatsächliche Nutzung des Formats womöglich auseinanderklaffen, da die Inhalte deutlich interessanter sind als ihre Breitenwirkung.

Das "Dschungelcamp" hat vermutlich mehr Zuschauer als eine superangesagte Serie

Man kann das bei generationenübergreifenden Familientreffen, wie zuletzt an Weihnachten, ganz gut studieren, wenn etwa die technikaffinen Kinder den Eltern begeistert erklären, dass sie nun auch Jean Siblius' Symphonie Nr. 2 hören - die sie durch die Orchesterserie Mozart in the Jungle entdeckt haben. Der sich entspinnende Dialog erinnert schnell an die Frühzeiten der Computerei oder der mobilen Telekommunikation: Unverständnis trifft auf Unverständnis. Die Jungen tun so, als sei es selbstverständlich, sich das Fernsehprogramm per Smartphone auf den Fernseher zu laden, die Älteren lassen durchblicken, dass sie ein gutes Buch auch deswegen schätzen, weil man vor dessen Genuss nicht Informatik studiert haben muss.

Streaming bleibt wohl bis auf Weiteres ein Spaß für Early Adopter, wobei das massenhafte Videothekensterben schon ein Hinweis darauf sein könnte, dass wir uns inmitten einer kulturellen Umwälzung befinden. Doch weil konkretere Zahlen als die Rekordwerte, die Reed Hastings regelmäßig in die Welt pustet, nicht vorliegen, muss man annehmen, dass im Durchschnitt immer noch sehr viel mehr Menschen vor dem Dschungelcamp oder einer Volksmusik-Sendung sitzen als vor einer superangesagten Serie, die gleich mit allen Folgen auf einmal online gestellt wurde, auf dass man ihr das gesamte Wochenende widmen kann.

Erst übermorgen werden wir erfahren, ob die Neugier den Älteren nicht bald über die technischen Hürden hilft. Immerhin gibt es mittlerweile auch völlig selbstverständlich SMS schreibende Großeltern. Und ob die Streaming-Angebote dem Fernsehen ernsthaft den Rang ablaufen können oder nur ein schicker Service für faule Cineasten bleiben, die es von der Couch nicht mal mehr ins Kino schaffen.

Und ebenfalls erst übermorgen wird sich herausstellen, ob die hohe Qualität dieser Serien dem Gründungsfieber der Branche geschuldet ist, in der momentan so viel Geld zirkuliert, dass genug für spannende Experimente abfällt - oder schon bald nach einem Quotensystem optimiert und auf Stars und gängige Inhalte reduziert wird.

Man kann eben schwer in die Zukunft sehen. Außer vielleicht Eleven, das mysteriöse Mädchen aus Stranger Things, die kann das vermutlich. Wer die nicht kennt, hat echt was verpasst.

© SZ vom 21.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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