"The Independent":Zweites Leben

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Als vor einem Jahr die letzte Druckausgabe der britischen Zeitung erschien, befürchteten alle eine Abwicklung auf Raten. Doch im Internet macht das Medium erstmals seit 20 Jahren wieder Gewinn.

Von Alexander Menden

Als am 26. März 2016 die letzte Druckausgabe des Independent herauskam, waren sich alle Beobachter einig: Das ist das Ende des Blattes. Das Vorhaben, die Zeitung als reines Digitalerzeugnis weiterzuführen, erschien damals im Vergleich zur kompletten Einstellung einfach als etwas humanere Art, sie abzuwickeln. Christian Broughton erinnert sich nicht ungern an die Unkenrufe, die diese Umstellung begleiteten. Ein Jahr danach sitzt der Chefredakteur des Independent in seinem schmucklosen Büro im Northcliffe House, dem einzigen Einzelzimmer neben einem eng besetzten Großraumbüro nahe der Londoner Kensington High Street, und lobt die Entscheidung des russischen Besitzers Evgeny Lebedev als visionär: "Gerade weil wir den Independent so sehr liebten, mussten wir die Papierausgabe abschaffen!", sagt Broughton, ein jugendlich wirkender Mann in einem weißen, eng geschnittenen Hemd. "Anderen mag das als verrückte, radikale Entscheidung aus heiterem Himmel erschienen sein - für uns war es die einzig mögliche Lösung."

Die Unabhängigkeit, die die Zeitung im Titel führte, war einer der Gründe für ihren Niedergang

Broughton schrieb schon als Student 1997 für den Independent. Obwohl er zwischendurch für andere Publikationen wie die Sportzeitung Sporting Life, das Boulevardblatt Daily Mirror und das Stadtmagazin Time Out arbeitete, zog es ihn immer wieder zu seiner ersten Zeitung zurück. Seit 2012 war er Chef der Web-Ausgabe, seit einem Jahr leitet er den Independent in seiner neuen, rein digitalen Form. Gründe für die Aufgabe der Printedition habe es reichlich gegeben: "Wir hatten immer weniger Anzeigen. Die Druckauflage lag am Ende um die 50 000 Stück, das war einfach nicht mehr sinnvoll." Zudem habe die Sorge vor einem Brexit das Pfund geschwächt und so die Druckkosten erhöht, da britische Zeitungen Papier und Druckfarben in Kontinentaleuropa beziehen.

Jenseits aller praktischen Erwägungen bleibt die Tatsache, dass der Verlust des Independent als unabhängige Stimme im rechtslastigen britischen Print-Spektrum zunächst ein herber war: Das Blatt war neben dem Guardian die letzte verbliebene politisch liberale (allerdings, anders als der Guardian, auch entschieden marktliberale) Qualitätszeitung. Mit der letzten Druckausgabe endete ein wichtiger Teil der Londoner Pressegeschichte, der 1986 begonnen hatte, als drei ehemalige Journalisten des Daily Telegraph den Independent gründeten. Die etablierten Zeitungen mussten sich dieser neuen Konkurrenz stellen - manche taten das durch die Verbesserung der eigenen journalistischen Arbeit, andere, wie Rupert Murdochs Times, vor allem durch einen Preiskrieg.

In den ersten Jahren war der Independent alles, was man von einer Zeitung erwarten darf: elegant und modern im Erscheinungsbild, weltläufig, mit einer innovativen Bildredaktion, einem beachtlichen Kulturteil, allseits respektierten Auslandskorrespondenten und dem beständigen Willen zur Neuerung. Er hatte die erste Magazinbeilage im Vierfarbdruck und führte noch Anfang der Nullerjahre die Entwicklung vom "Broadsheet" zum kleineren Format an - auch hier folgten Times und Guardian diesem Beispiel rasch. Die letzte Innovation war das kompaktere Schwesterblatt i mit kürzeren Artikeln und niedrigerem Verkaufspreis, das 2010 startete.

Doch am Ende war die Unabhängigkeit, die diese Zeitung im Titel führte, wohl auch ein Grund für ihren Niedergang: Der Independent hatte keine prädestinierte Leserschaft, weil er sich nicht parteinah positionierte. Es gab immer neue Entlassungswellen, die Redaktion wurde mehr und mehr ausgehöhlt. Im Februar 2016 verkauften die russischen Eigentümer i, das bis dahin eine Art finanzieller Rettungsring gewesen war, an das schottische Verlagshaus Johnston Press. Einen Monat später war der Print- Independent Geschichte.

Nach der Trump-Wahl gehörte der "Independent" in den USA zu den meistgenutzten Nachrichtenseiten

Darf man Christian Broughton glauben, ist die Entwicklung seither eine einzige Erfolgstory: "Als Onlinezeitung", sagt Broughton, "arbeiten wir zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder mit Gewinn. Das Geld können wir in Journalismus stecken, wir planen gerade 50 neue Redaktionsstellen." Damit erfülle der Digital- Independent das Credo der Gründer aus den Achtzigerjahren "Keine Unabhängigkeit ohne Profit". Natürlich seien die Lesererwartungen bei einer Onlinezeitung andere als beim Druckerzeugnis. "Wenn etwas erst einmal gedruckt ist, ist es fertig. Die Online-Ausgabe muss flexibel bleiben", sagt Broughton. Es gehe um eine ständige "Konversation" auf allen Plattformen mit den Lesern: "Wir können uns nur darüber aufregen, dass die Menschen ihre News ausschließlich aus sozialen Netzwerken bekommen. Die beste Art, Fake News dort zu bekämpfen, ist, besonders gut darin zu sein, echte News über soziale Netzwerke zu verbreiten!"

Die Vermutung, der Independent in seiner gegenwärtigen Form sei eher ein etwas aufwendigeres Newsblog, weist der Chefredakteur weit von sich: "Ein guter Test für Blogs und andere Konkurrenten in der 'Digi Only'-Welt ist folgender: Wenn man das, was sie produzieren, ausdrucken würde, würde das eine Zeitung füllen? Die Antwort ist fast immer: Nein. Bei uns wäre sie: Ja." Obwohl er sich mit konkreten Zahlen zurückhält, verweist er stolz auf etwa 95 Millionen Nutzer, die seine Website allein im vergangenen Januar besucht haben. Eine Bezahl-App, die redaktionelle Inhalte täglich im E-Paper-Format anbietet, habe jetzt schon mehr Abonnenten als zuletzt die Printausgabe.

Dass man nicht parteipolitisch verankert sei, erweise sich nun als Vorteil: "Labour und die Tories gibt es in den USA nicht. Dort haben wir aber mittlerweile mehr Leser als in Großbritannien." Nach den amerikanischen Wahlen sei der Independent in den Vereinigten Staaten die sechst meistgenutzte Nachrichtenseite gewesen, und die einzige britische in den Top Ten. Zudem ist der Independent eine der wenigen britischen Publikationen, die konstant gegen den Brexit argumentiert.

Der Erfolg mag auch am Tonfall liegen. Man dürfe Ruhe nicht mit Qualität verwechseln, sagt Broughton. "Wir berichten mit Gusto, wobei wir nicht in die Falle tappen dürfen, unsere Methoden von denen unserer Gegner definieren zu lassen." Das gelingt beileibe nicht immer. Ob ein klickheischender Text mit der Überschrift "Sexy Kleidung lässt Frauen laut Studie intelligenter aussehen" wirklich den Qualitätsjournalismus darstellt, dessen der Independent-Chef sich rühmt, ist fraglich. Auch die Eile des Onlinebusiness hat Tücken: Nach dem Terror-Anschlag in Westminster vergangene Woche veröffentlichte die Website voreilig den Namen eines Verdächtigen - kurz darauf stellte sich heraus, dass der Genannte im Gefängnis saß und als Täter nicht in Frage kam. Alle betreffenden Seiten wurden eilends gelöscht.

Von einem derart peinlichen Fauxpas lässt sich Christian Broughton die Laune nicht verderben. Für ihn hat seine Publikation die "Ausgereiftheit einer traditionellen Zeitung und die Beweglichkeit eines Start-ups". Er betrachtet die Einstellung der Druckausgabe als Segen. Print werde nicht sterben, sagt er "genauso, wie es noch immer Vinylschallplatten gibt" - aber es werde irgendwann nicht mehr die dominante Form sein.

"Wenn ein Medium noch einigermaßen funktioniert, ist nicht viel Druck da, sich über Alternativen Gedanken zu machen", sagt Broughton. "Manchmal ist es kein Nachteil, gezwungen zu sein, sich als Erster zu verändern."

© SZ vom 29.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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