Serienexperiment im Internet:Bewegt euch

Lesezeit: 3 min

Was passiert, wenn Menschen durch Zufall Macht bekommen? In der Webserie "Parlamensch" entwickeln junge Filmemacher ganz spannende Visionen in ungewöhnlichen Formaten.

Von Johanna Hinterholzer

Die Botschaft klingt aufgeregt. "Ey Leute, ihr glaubt nicht, was grad passiert ist, ich hab einen Brief bekommen", teilt @marcovicmarina, Influencerin, ihren Followern in ihrer Instagram-Story mit. Der besagte Brief, versandt vom Innenministerium, informiert die junge Frau darüber, dass sie - ausgerechnet sie! - per Los dazu auserkoren wurde, politische Veränderung zu initiieren.

Sie darf entweder ein Gesetz erlassen oder über ein Budget verfügen. Nachdem sie sichergestellt hat, dass das "safe kein Joke ist" fragt sie ihre Fan-Community, was diese an ihrer Stelle machen würde. Sie sortiert Vorschläge wie "Frauen dürfen keinen BH mehr tragen, lol" aus und entscheidet sich letztendlich für kostenlose, öffentliche Verkehrsmittel für alle.

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So die Handlung einer der Episoden der Webserie Parlamensch, die von Mittwoch an online zu sehen ist. Als sie kürzlich im NS-Dokumentationszentrum in München Premiere feierte, füllte sich der Saal mit Klatschen und Lachen, als die Folge im Instagram-Story-Format (Regie: Sophia Schuster, Laura Gervais) gezeigt wurde. Über 100 Jugendliche haben an der Serie mitgearbeitet, sie ist das Ergebnis eines partizipativen Filmexperiments des Instituts für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (JFF) in Kooperation mit dem Bayerischen Jugendring.

Die Filmemacher sind 16- bis 24-jährige Filmschaffende aus Bayern, die die Veranstalter zuvor auf Jugendfilmfestivals gesichtet hatten. Das Ziel: "Wir wollen junge Filmemacher unterstützen. Vor allem jene, die noch nicht alt genug für eine Filmhochschule sind oder einen alternativen Weg gehen", sagt der Projektverantwortliche Thomas Kupser. Außerdem habe man eine Auseinandersetzung mit dem Thema Demokratie anregen wollen. In einer Art Planspiel sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer folgendes Ausgangsszenario filmisch behandeln: In einem fiktiven Deutschland der nahen Zukunft fasst die Regierung einen Notfallplan. 20 zufällig ausgewählten Bürgern wird Souveränität verliehen. Per Budget-Beschluss oder mit einem neuen Gesetz sollen sie die Gesellschaft voranbringen. "Ich war selbst überrascht, als ich gelesen habe, dass in Belgien ein ähnliches Szenario schon Realität ist", sagt Kupser in seiner Eröffnungsrede. Er hält einen Zeitungsartikel vom 18. Oktober hoch. Die Deutschsprachige Gemeinschaft (DG) Belgiens im Osten des Landes hat kürzlich ein neuartiges Modell der Mitmach-Demokratie eingeführt. Dort gestaltet fortan ein Bürgerrat aus vierundzwanzig ausgelosten Menschen die Politik mit.

Was die jungen Kreativen aus dem Ausgangsszenario gemacht haben, ist nun in Parlamensch zu sehen. Unabhängig voneinander haben die einzelnen Filmteams neun dreiminütige Episodenfilme zur Serie geschaffen. Jede Folge ist einem der fiktiven Bürger gewidmet, die vom Brief der Regierung überrascht werden. Da empört sich ein vom Wahlkampf geschundener Bürgermeister über die Willkür der neuen Methode der Regierung, ein Obdachloser wird beim Jobcenter von dem Brief überrascht, ein Rentner sieht sich dem Neid seines Enkels gegenüber. Die Unterschiede in den Lebenswelten der Charaktere spiegeln sich in der stilistischen Vielfalt der Serie wider: Vom experimentellen Schwarz-Weiß- Stummfilm über die Instagram-Story bis hin zum verwackelten Handkamera-Video ist alles dabei. Verbunden sind die einzelnen Episoden mit einem Clip, der zu düsterer Musik ein versteinertes Parlament zeigt. Auf die Köpfe der Skulpturen der Abgeordneten sind die Gesichter der Serienfiguren projiziert.

In der finalen Folge wirbt die fiktive Hilfsorganisation "befreit.mich" für ihr Angebot, die Auserwählten von der Bürde zu befreien, politische Entscheidungen treffen zu müssen. Regie führte Moritz Möhwald von "Drehmetrie", einer jungen Filmgruppe aus München. Nachdem sein Beitrag bei der Premiere gelaufen war, betrat er die Bühne und blieb in seiner Rolle als Vertreter der Organisation. In einer passionierten Rede plädierte er einmal mehr für die Freiheit eines jeden, politisch inaktiv zu sein. Fragen des Moderators kommentierte er mit dem Verweis auf sein Recht zu schweigen. Das Publikum jubelte, ein Junge mit neonorangener Baseballkappe schrie ihm zu: "Du bist mein Mann!"

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Über die Zukunft ihrer Charaktere und welche Veränderungen sie anstreben werden, darüber wollten alle Gruppensprecher nicht viel preisgeben. Dass es weitergehen wird, steht aber außer Frage. Unmittelbar nach der Vorführung begann die Planung der zweiten Staffel. Während die Veranstalter auf dem Vorplatz des NS-Dokumentationszentrums Süßkartoffel-Wraps und Club Mate verteilten, tauschten die Teilnehmer Ideen aus: "Unser Nerd könnte doch die Organisation hacken." "Der Bürgermeister wird mit seinem Gesetz sowieso diese ganze neue Regelung rückgängig machen." "...und dann kommt ein richtig blutiges Gemetzel."

Parlamensch , z.B. zu sehen auf parlamensch.de oder Instagram.com/parlamensch.

© SZ vom 13.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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