Aufräumen, Ordnung halten, Tischmanieren beachten: Mit dem Lotterleben in Deutschlands berühmtester Sudel-WG ist es bald vorbei. Anfang Juni ist mit der rüstigen Seniorin Anne die bislang älteste Kandidatin in die berüchtigte Big Brother-Wohnbaracke eingezogen. Die 65-jährige Kunstmalerin aus dem Bergischen Land hat ihren Einstand zwar mit RTL2-typischen Gastgeschenken - Zigaretten und Fusel - versüßt. Schon kurze Zeit später ließ sie erkennen, wie sie mit ihren neuen Mitbewohnern umgehen wird - darunter dem Mann, den alle nur "Porno-Klaus" nennen, dem großflächig tätowierten Horst oder Busenwunder Katrin, die ihr 70-G-Körbchen gerne quotenträchtig ins Bild schiebt.
Ihren Generationen versöhnenden Einsatz vergleicht Hobbygärnterin Anne mit der von ihr geliebten Blumenpflege. Natürlich muss sie im Fleischbeschau-Container Mimosen pflegen, aber vor allem viel "Unkraut jäten". In ihrer Mission, den derzeit wichtigsten RTL2-Protagonisten Grundregeln von bürgerlichem Anstand näher zu bringen, unterscheidet sie sich gar nicht so sehr von ihrem obersten Dienstherrn Jochen Starke.
Der Senderchef ist ein Manager mit sportlicher Ausstrahlung, der seine Sätze sorgfältig abwägt und bei Fragen zur Dürftigkeit seines Programms nur milde lächelt. Aktuell begleitet er seinen Sender ebenfalls auf einem Reifungsprozess. "Es gibt unterschiedliche Lebenszyklen eines Unternehmens", sagt er. "Wir befinden uns bei RTL2 auf dem Weg zum Erwachsenwerden."
Lange hat er darüber gebrütet, wie er dem im Münchner Nobelvorort Grünwald ansässigen Wildwuchs- und Unkraut-Sender ein frischeres, lebensfroheres und insgesamt positives Image verpassen kann. Dabei hat der bedächtige Stratege sogar auf Einschätzungen der renommierten Beratung Roland Berger zurückgegriffen. Seit einem Jahr heißt jetzt Starkes Forderung an seinen Sender - und damit die generelle Werbebotschaft des Hauses - neudeutsch forsch "It's fun". RTL2 soll also nun Zuschauern, aber auch Kritikern Freude bereiten. Das Schmuddelimage soll weg.
"RTL2 hat natürlich in der Vergangenheit Tabus gebrochen", gesteht der Senderchef ein. "Wir sind auch immer wieder über die Grenzen hinaus gegangen", so Starke, "das ist sicherlich etwas, was uns noch nachhängt." Dass RTL2 gerne kritisch gesehen wird, ist ihm bewusst. "Wir werden gerne als Beispiel herangezogen", so Starke, "wenn es darum geht, auf die private Fernsehlandschaft einzuprügeln." Aktuell sieht der Senderkapitän sich in sichererem Fahrwasser: Nach dem neuen Werbeclaim und den vielen Plakaten mit frisch wirkenden RTL2-Jugendlichen möchte er jetzt die Stellschrauben am Programm anziehen. "Wir wollen uns in der Senderlandschaft eindeutiger positionieren", sagt Starke und denkt dabei vor allem an mehr Shows und Comedy-Formate.
"Wir haben im Moment viel in der Entwicklung", deutet Starke an. Holger Andersen hat er vom großen RTL-Dampfer zum kleinen RTL2-Schiff als Programmdirektor gelotst. Darauf ist Starke immer noch stolz. Nach dem Ausscheiden von Axel Kühn Ende 2008 war der wichtige Schlüsselposten lange verwaist, jetzt darf Andersen bei RTL2 Formate entwickeln - und sich dabei von seinem langjährigen Kölner Alt-Arbeitgeber inspirieren lassen. "Ich habe mir Zeit gelassen bei der Suche des Programmchefs", blickt Starke zurück. "Gute Leute in diesem Bereich bekommt man nicht in der Vielzahl, wie man sie auf anderen Positionen haben könnte." Andersen betreute in Köln lange den Comedy-Bereich von RTL, war aber auch schon Leiter der strategischen Programmentwicklung. Mit ihm kam eine alte Bekannte zurück zu RTL2, die dank ihrer Ranking-Shows als klassisches RTL-Sendergesicht gilt: Sonja Zietlow.
"Wenn man die Chance hat, eine gute, bei den Zuschauern etablierte Moderatorin wie Sonja Zietlow zu bekommen", so Starke, "haben auch die neuen Showkonzepte bessere Chancen, gute Quoten einzufahren." Die Mitte April gestartete Reihe mit fünf Test-Shows nach dem Muster Der große deutsche IQ-Test oder Der große deutsche Love- & Sex-Test fanden ihr Publikum auch am hart umkämpften Sendeplatz am Sonntagabend - dennoch ist der Erfolg mit Marktanteilen rund um die sechs Prozent noch ausbaufähig. Trotzdem soll es im Herbst weitergehen.
"Wir haben uns vielleicht nicht für den einfachsten Sendeplatz entschieden", bilanziert Starke. "Aber die Zahlen zeigen, dass die Zuschauer das mitmachen." Dennoch will er eine Verlegung der neuen Show-Reihe nicht ausschließen.
Gut möglich, dass Starke auch noch weiteren Protagonisten eine Chance gibt: Zuletzt durfte RTL2-Wissensmoderator Hendrik Heyl eine Welt der Wunder-Wissensshow erproben - ebenfalls unterstützt durch Frontfrau Sonja Zietlow. Für den Sommereinsatz im August wird Jochen Bendel für vier Wochen als Moderator einer Spieleshow reaktiviert, die auf einem Kreuzfahrtschiff abgehalten wird. Big-Brother-Oma Anna stünde sicher gerne an der Reling.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Showreihe Die neue Hitparade weg vom Sonntag gerückt, mit der RTL2 etwas vom Erfolg ähnlicher ZDF-Formate ins Haus holen wollte. Mit Schunkelstars wie DJ Ötzi und Karel Gott buhlte die Neuentwicklung erstmalig im Oktober 2009 um Zuschauer, kam aber damals nur auf 5,3 Prozent Marktanteil. Für die zweite Ausgabe, Mitte Mai mit Ex- Modern-Talking-Sänger Thomas Anders als Moderator, lief's mit einem Zielgruppenschnitt von nur 3,7 Prozent noch schlechter. Dennoch lässt sich Starke die Partyfreude nicht trüben - und an Anders hält er bis auf weiteres auch fest. "Wir sind uns immer noch nicht ganz klar, warum es diesmal nicht so gut funktioniert hat", erzählt Starke. "Der Sonntag ist kein einfacher Tag. Wir werden uns den Sendeplatz noch einmal zur Brust nehmen."
Trotzdem hat sich die Hitparaden-Nummer für RTL2 bereits bezahlt gemacht. Laut Starke verkauft sich die über den Sender vertriebene Compilation an Fetenhits ordentlich. Mit den CD-Auskoppelungen zur Pop-Reihe The Dome macht der Sender trotz Platten-Krise gute Geschäfte. Der Erlösanteil der Nebengeschäfte macht in der RTL2-Bilanz einen Prozentanteil im "unteren zweistelligen Bereich" aus.
Trotz des propagierten Innovationsschubs - Starke: "Es liegen einige Pilot-Sendungen auf meinem Tisch, die ich mir in den nächsten Wochen vornehmen werde" - fährt er weiterhin am sichersten mit Altbewährtem aus Zeiten vor der Programmoffensive. Die Quotenbringer sind Dokusoap-Formate wie der Dienstagsklassiker Frauentausch oder die mit Marktanteilen bis zu elf Prozent auftrumpfende zehnte Staffel von Big Brother. Dass die so erfolgreich laufen würde, hatte man in Grünwald offenbar lange selbst nicht mehr erwartet - und sieht sich so plötzlich unter Leistungsdruck gesetzt. "Wir werden uns nicht auf dem Erfolg von Big Brother ausruhen", versichert TV-Chef Starke. "Auch am Vorabend wird sich noch einiges tun." Vor allem der konkurrierende Zweitliga-Sender Kabel 1 macht mit starken Vorabend-Sitcoms wie Two and a Half Men zu schaffen.
Vom 9. August an geht es erst einmal mit den X-Diaries weiter - der ersten Dokusoap mit Reality-Anmutung auf RTL2, deren Drehbücher jedoch von vorneherein von Autoren geschrieben wurden. RTL fährt damit am Nachmittag gute Erfolge ein. Und die Senderchefs können auch ruhig schlafen: Beim ohnehin offen abgekartetem Spiel sind böse Überraschungen mit widerspenstigen Mitspielern auszuschließen. Zuletzt war die RTL-Dokusoap Unterm Hammer ins Gerede gekommen und flugs abgesetzt, weil die Protagonisten im Nachhinein behaupten, dass es der Sender mit der Wiedergabe der Wirklichkeit nicht so genau nahm. Auch das kann man von RTL lernen.
Eine Krise der Reality-Formate, die bei der Kölner Mutter zu zunehmend mauen Quoten für einstige Leistungsträger wie Die Super Nanny oder Die Ausreißer führte, fürchtet Starke nicht. Wie viel Fun in Frauentausch steckt und ob es wirklich Freude bereit, sich von Herbst an mit der Rückkehrerin Verona Pooth als Engel im Einsatz zu bewähren, bleibt allerdings dahingestellt. "Überall wo 'It's Fun' draufsteht, soll auch 'It's Fun' drinstecken", sagt Starke und lächelt Einwände über sein durchaus eigenwilliges Verständnis von Unterhaltung und Lebensfreude weg. Bei RTL2 reicht "Fun" eben vom Big Brother-Voyeurismus bis hin zu grenzwertig inszenierten Schönheits-OPs in der Dokusoap Extrem schön.
"Bei Sat1 lautet der Werbeclaim 'Color Your Life'", kommentiert Starke leicht sarkastisch. "Und dabei steckt dort auch nicht in jedem Format Farbe."
Doch ist es nicht reichlich zynisch, den Zuschauern zur besten Sendezeit entstellte Gesichter zu präsentieren und das Leid der Betroffenen werbewirksam auszuschlachten? " Extrem schön ist streng genommen ein Helptainment-Format", rechtfertigt sich Starke. "Es geht um Menschen, die in welcher Form auch immer mit ihrem Aussehen Probleme haben." Und dabei spielt der Sender den Samariter: "Wir bieten ihnen eine Möglichkeit, ihr Aussehen zu verändern oder zeigen Hilfestellungen auf, wie sie in Zukunft ihr Leben positiver gestalten können." Bei den Quoten liegt die Schnippel-Soap verlässlich zwischen acht und zehn Prozent Marktanteil in der Werbezielgruppe. Im Herbst geht es laut Senderchef weiter.
Auch Big Brother wurde im Handstreich bis Anfang August verlängert. Ob Senderchef Starke nicht manchmal versucht ist, angesichts der guten Quoten die Schmuddel-Schau kurzerhand endlos, wenigstens aber bis Jahresende auszudehnen? Natürlich nicht, lacht Starke. "Bei einer aufwendigen Produktion wie Big Brother ist es nicht möglich, so kurzfristig einzugreifen", sagt er. Das Verlängern war angeblich schon von längerer Hand geplant, selbst wenn es für alle Beteiligten, auch im Container, überraschend kam.
Dass es aber nach der zehnten Staffel schon rasch wieder eine Big Brother-Fortsetzung geben wird, ist so gut wie ausgemacht. "Das werden wir entscheiden, wenn diese Staffel erfolgreich zu Ende gegangen ist", lautet die offizielle Sprachregelung. Angesichts der "zweistelligen Rendite", die RTL2 laut Senderchef erwirtschaftet, kann er derartige Entscheidungen entspannt angehen. Für ihn selbst hat der neue Werbeclaim "It's fun", der prominent in seinem Chefbüro prunkt, schon längst nichts Beschwörendes mehr. "Ich habe Spaß an meinem Job", sagt Starke. "Aber das hat ausnahmsweise einmal nichts mit dem Werbeclaim zu tun."
An seinen Umgangsformen und dem gewinnenden Auftreten hätte Big Brother-Omi Anne sicher nichts auszusetzen.