Radio:Wild und widerborstig

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"Eine gewisse Dissidenz liegt in der Genetik": Gegründet zur geistigen Umerziehung der Deutschen, gibt die Essay-Sendung "Nachtstudio" seit nunmehr 70 Jahren Denkanstöße im Hörfunk - und reizt das Publikum oftmals auch zum Widerspruch.

Von Stefan Fischer

Am 10. Dezember 1948 wurde das Nachtstudio zum ersten Mal ausgestrahlt - da gab es den Bayerischen Rundfunk noch gar nicht, der sendete erst ein paar Wochen später über UKW. Die Welle hieß vorerst Radio München. Das Nachtstudio, das nun 70 Jahre alt wird, ist also ein Urgestein des Hörfunks in Bayern, eine der ganz wenigen Sendungen, die es nach wie vor gibt im Programm des BR - und darunter die einzige, die nach wie vor den ursprünglichen Namen trägt und an deren Format sich im Kern nicht viel geändert hat. Nur die Wellen und Anfangszeiten haben ab und an gewechselt. Aktuell läuft die Sendung dienstags um 20 Uhr auf Bayern 2.

Das Nachtstudio ist seit jeher der Ort für Debatten und Essays, für Standpunkte und Diskurse im bayerischen Radio, bis heute. Gegründet wurde die Sendung - der Rundfunk unterstand der amerikanischen Militärbehörde -, als Maßnahme zur Reeducation, der geistigen Umerziehung also. Die Deutschen sollten das Denken wieder lernen und sich in Demokratie üben. Das Nachtstudio war ein frühes Forum dafür, das der erste Leiter der Sendung, Gerhard Szczesny, widerborstig bespielte. Gegen restaurative Tendenzen, die die Adenauer-Zeit geprägt haben.

Zuletzt ging es in den Sendungen um den politischen Rechtsruck und Meinungsmache im Internet

"Eine gewisse Dissidenz liegt in der Genetik des Nachtstudios", sagt der gegenwärtige Leiter, Martin Zeyn. Zuletzt haben sich Sendungen mit dem politischen und gesellschaftlichen Rechtsruck beschäftigt, vergangene Woche ging es um Bots und wie diese digitalen Kommunikationsprogramme Meinung machen. Auch blickt das Nachtstudio auf die eigene Geschichte zurück, hat eine Debatte von Hannah Arendt und Carlo Schmid wiederholt über das Recht auf Revolution und ein literarisches Streitgespräch zwischen Eva Demski, Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser.

Die Literatur spielt inzwischen eine geringere Rolle als früher, auch wurde der Diskurs länger schon entakademisiert. Martin Zeyn favorisiert gesellschaftliche Fragestellungen - wie Arbeit organisiert wird oder Wohnen, es geht um Provinz oder Rollenbilder. Fast durchweg sind die Nachtstudio-Sendungen klug, geben Denkanstöße, reizen zum Widerspruch. Die Magazin-Ausgabe "Wildes Denken" am Monatsende ist besonders aufgekratzt, provokant, mit Tendenz zum Anarchischen. Seine ursprüngliche Funktion hat das Nachtstudio nicht eingebüßt, und deshalb gibt es diese Sendung notwendigerweise nach wie vor.

© SZ vom 10.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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