Radio:Die Illusion des Neuanfangs

Lesezeit: 2 min

Die jüdische Journalistin und Autorin Mirna Funk berührt mit ihrem ersten, sehr poetischen Hörspiel.

Von Anna Steinbauer

Jedes neue Leben beginnt bei Jonathan mit einem Paar Keds. Allerdings halten die Schuhe nie lange, weil er so viel läuft. Jonathan ist ein Getriebener. Immer wieder beginnt er von vorn. Er kann nicht anders. Zu den Schuhen immer derselben Marke kauft der 36-jährige Israeli aus dem Hörspiel von Mirna Funk jedes Mal zwei neue T-Shirts und zwei Jeans von H&M, rasiert sich die Haare und zerknickt seine Simcard. Nur in diesen Momenten endet seine Taubheit für kurze Zeit, und er kann sich spüren. Er ist dann der, der er gerade ist, ganz für sich allein. Bevor er wieder eine neue Frau kennenlernt, mit der es irgendwann vorbei geht. Mit diesem Ritual erhält Jonathan für sich selbst die Fiktion eines immerwährenden Neuanfangs aufrecht.

Auf einem einzigen Blatt Papier ist das erste Hörspiel der jüdischen Journalistin und Autorin Mirna Funk. Die 1981 geborene Ost-Berlinerin setzt sich häufig mit der eigenen Identität und Herkunft auseinander. Stets spürt man zwischen den Zeilen eine traurig-produktive Zerrissenheit. Wie kann man als Enkelin von Holocaust-Überlebenden in Deutschland leben, wo man inzwischen beinahe täglich wieder antisemitischen Übergriffen ausgesetzt ist? Aber kann man in Israel glücklich werden, einem Land im Dauerkriegszustand, dessen Politik man nicht unterstützt?

Diese Fragen ziehen sich durch Funks Werk und prägen auch den poetisch-melancholischen Ton des Hörstückes, zu dem Malakoff Kowalski den Titelsong geschrieben hat. In den 50 Minuten schafft es Funk mit ihrer geschickt arrangierten Erzählung und einem fantastischen Sprecher-Ensemble, den Zuhörer in Jonathans Universum zu ziehen. Man möchte den Protagonisten für seinen fatalen Irrglauben, er könne jede Beziehung bei Null beginnen, am liebsten zur Besinnung schütteln. Gleichzeitig beschleicht einen der Verdacht, womöglich selbst Anteile von diesem Jonathan in sich zu tragen.

Jede seiner Identitäten beginnt Jonathan auf einer neuen Seite seines Notizbuches. Ist diese voll, enden auch sämtliche Beziehungen. Mit Ella, die er direkt nach Keshet kennenlernt und sofort vergöttert, ist es nicht anders. Das Liebespaar mit festgelegtem Ablaufdatum sprechen die beiden Kammerspiele-Stars Thomas Hauser und Anna Drexler wunderbar manisch-übermütig. Weil der junge Israeli seine Lieben so schnell beginnt, wie er sie abbricht, zieht er nach einer Woche schon bei Ella ein und sagt Dinge wie "für immer". Besonders kunstvoll sind die erzählerischen Zeitsprünge, in denen man von Jonathans Vergangenheit und Familiengeschichte erfährt. Oder die herrlich surrealen Momente, in denen der Protagonist über einen Zahnarztbesuch nachdenkt und plötzlich mit einer geschwollenen Backe dasitzt.

"Israels Geschichte existiert nur auf einem einzigen Blatt Papier, das gelöscht und immer wieder neu beschrieben wird.", sagt Jonathan. Als Mann, der seine Vergangenheit leugnet, verkörpert er die Extremform eines Landes, das seine Traumata verdrängt. Funks Hörspiel berührt die Illusion, als geschichts- und kontextlose Wesen geboren zu werden. Das Leben ist jedoch mehr als das, was einem selbst passiert, sagt Funk. Daraus ergibt sich eine Verantwortung, für jeden.

"Auf einem einzigen Blatt Papier", BR 2, Montag, 20.05 Uhr. Oder als Podcast im BR-Hörspiel-Pool.

© SZ vom 24.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: