Radio:Der Schmerz der Vielen

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"Die Quellen sprechen" - die überwältigende BR-Edition zur Judenverfolgung wird fortgesetzt. Zeitzeugin Margot Friedländer ist eine der Erzählerinnen.

Von Stefan Fischer

Die Stimmen der alten Menschen stocken immer wieder. Nicht nur, weil für viele Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Sondern vor allem deshalb, weil so überaus ungeheuerlich ist, was sie vorlesen: Briefe und Tagebucheinträge, in denen Juden schildern, wie sie verfolgt werden durch das nationalsozialistische Deutschland. Wie sie miterleben müssen, dass ihre Verwandten, ihre Freunde, ihre Nachbarn systematisch deportiert und ermordet werden. Die diese Dokumente lesen, sind selbst Juden, letzte, hochbetagte Überlebende des Holocaust.

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(Foto: Gesa Simons/BR)

Zeitzeugin Margot Friedländer ist eine der Erzählerinnen.

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(Foto: Sabine Vielmo/BR)

Esther Bejarano

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(Foto: Gila Sonderwald/BR)

Max Volpert

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(Foto: Gila Sonderwald/BR)

Vera Treplin

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(Foto: Gesa Simons/BR)

Zvi Cohen

Der Schmerz ist nicht zu überhören in der lobenswerten und überwältigenden Höredition Die Quellen sprechen des Bayerischen Rundfunks, auch nach Jahrzehnten nicht. Die Dringlichkeit, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, so der Untertitel, stets neu im kollektiven Gedächtnis zu verwurzeln, weil sich diese Verankerungen immer wieder lösen und immer wieder auch böswillig gelockert werden, sie wird in dieser mündlichen Tradierung deutlicher als durch jedwede Lektüre.

Nicht nur die Wahrnehmung der Opfer ist Teil dieser von Ulrich Lampen sehr präzise und umsichtig inszenierten umfassenden Quellen-Sammlung. Auch Dokumente der Täter und Beobachtungen von unbeteiligten Zeugen - so man das überhaupt sein konnte - fließen ein. Befehle, interne Berichte und Schilderungen der Henker zeigen sehr deutlich, mit welcher Akribie und Brutalität gegen die jüdische Bevölkerung vorgegangen worden ist - in ganz Europa. Diese Dokumente, verfasst von Tätern oder Dritten, werden von Schauspielern gelesen, in den aktuellen Folgen von Wiebke Puls und Michael Rotschopf - die ohnehin immense Zumutung für die jüdischen Beteiligten an Die Quellen sprechen hätte eine zynische Dimension bekommen, hätte man ihnen aufgebürdet, auch die Nazi-Dokumente vorzutragen.

Gestartet ist das auf 16 Folgen angelegte Projekt, an dem das Institut für Zeitgeschichte und die Edition Judenverfolgung 1933-1945 des Bundesarchivs sowie mehrerer Universitäts-Lehrstühle maßgeblich beteiligt sind, bereits Anfang dieses Jahrzehnts, die ersten Teile hat Bayern 2 im Januar 2013 gesendet. Nun sind die Folgen neun bis zwölf fertiggestellt, jede eineinhalb Stunden lang. In ihnen wird vor allem die Situation in Ost- und Südosteuropa geschildert. Nachdem sich die ersten Folgen vor allem mit den unmittelbar vom NS-Regime beherrschten Territorien befasst haben, also dem Deutschen Reich und dem Reichsprotektorat Böhmen und Mähren, weitet sich die Perspektive nun auf den restlichen Kontinent. Deutlich wird jetzt die Ausweglosigkeit: Juden, denen es nicht gelungen ist, Europa zu verlassen, hatten kaum eine Überlebenschance. Auch die Dimension, in der das nationalsozialistische Deutschland bereitwillige Mittäter gefunden hat, die sich an der Ermordung der Juden beteiligt haben, ist unübersehbar.

Ein Vorwurf, den man gegenüber Die Quellen sprechen womöglich erheben könnte, verfängt nicht: Dass dieses Projekt nämlich zu viel vom Gleichen versammelt. Gerade das ist seine Qualität. Weil es das gigantische Ausmaß dieses Genozids nicht nur behauptet, sondern abbildet. Und weil eben Die Quellen sprechen, also vielen Einzelschicksalen Raum gegeben wird. Es sind nicht "die Juden", die verfolgt und ermordet worden sind, es ist keine anonyme, gesichtslose Masse. Vielmehr handelt es sich um Millionen individuelle Menschen, mit ihren ureigenen Geschichten, Ansichten, Hoffnungen und Ängsten. Historisch eingeordnet wird das jeweils durch die Beiträge der Reihe Die Quellen sprechen. Diskurs, in der Wissenschaftler zu Wort kommen. Eine dritte Säule sind die Zeitzeugen-Interviews: In Die Quellen sprechen stellen sich die jüdischen Überlebenden kurz vor, lesen jedoch die Texte anderer Opfer. In den Zeitzeugen-Dokumenten erzählen sie ihr eigenes Schicksal.

Bislang waren das reine Audio-Dokumente, für die neue Staffel wurden diese Gespräche zudem filmisch dokumentiert. Die Zeitzeugen-Beiträge finden sich wie die Diskurs- und die Dokumente-Folgen auf der puristisch gestalteten Website die-quellen-sprechen.de, sie ist die Basis des Projekts und soll Die Quellen sprechen jederzeit und dauerhaft zugänglich machen. Ein Podcast mit allen bisherigen Folgen ist von Freitag an freigeschaltet, der BR erhofft sich davon, zusätzliche Hörer auf dieses Projekt aufmerksam zu machen.

Die Quellen sprechen. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945 , Bayern 2, freitags, 21.05 Uhr. Auch als Podcast, zum Beispiel unter br.de/mediathek/podcast Die Quellen sprechen. Diskurs , Bayern 2, samstags, 15.05 Uhr. Die komplette Höredition ist dokumentiert auf der Website die-quellen-sprechen.de

© SZ vom 05.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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