Printmagazin:Himmelhoch

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Der "Musenalp-Express" war in der Schweiz das Zeitgeist-Magazin schlechthin, auch weil die Leser selbst die Beiträge schrieben. Der Start in Deutschland im Herbst 1988 wurde zum Verhängnis. Eine Erinnerung.

Von Burkhard Riedel

Es ist immer noch so wie damals. Am zweiten Stützmast der Seilbahn rumpelt und schaukelt die Gondel. Die Luft wird dünner. Auf ihrer Fahrt nach oben drückt es den Fahrgästen in den Ohren. Steil über ihnen ist die kleine Bergstation von Niederrickenbach noch gar nicht zu erkennen: Eine trübe Wattewand aus Nebel umschließt die Kabine, bis sie unvermittelt in blendenden Sonnenschein eintaucht und alles Graue unter sich lässt.

Othmar Beerli hat die Metapher vom Nebelmeer oft und gern benutzt. Drunten unterm Grau, in den Schweizer Tälern und deutschen Ebenen, mochten sich die Gurus der Werbe- und Medienszene über coolen Zeitgeist und authentische Ansprache junger Zielgruppen erbittert streiten. Hoch oben in der Sonne, im winzigen Klosterdorf Niederrickenbach, dessen exotischster und prominentester Bewohner Beerli für zwanzig Jahre war, war alles anders. Genial simpel und direkt war der Zugang seiner Medien zu Millionen junger Leser, von einer höhenluftigen Leichtigkeit seine unternehmerische Vision - zumindest, bis nach einem beispiellosen Höhenflug der Absturz kam.

Heute heißt das Prinzip von Othmar Beerli: "User generated Content"

"Wir brauchen keine Redaktion, bei uns schreiben die jungen Leser selbst": Seit 1976 hatte dieses schlichte Prinzip Beerlis Musenalp-Express - benannt nach dem Bergplateau vor seinem Fenster - zur größten Jugendzeitschrift der Schweiz gemacht, mit bis zu 300 000 Exemplaren pro Ausgabe und geschätzten 25 Millionen Franken Jahresumsatz. Die - fast immer undotierten - Texte und Fotos von Schülern und jungen Erwachsenen sicherten die Sympathien der Schweizer Lehrer; deshalb konnten die Hefte gratis an Schulen verteilt werden. Umsatz und Gewinn generierten sich aus Anzeigen, vor allem aber aus den Katalogseiten des "Junior Discount Service" im Mittelteil des Magazins. Dieser Versandhandel, von Beerli selbst betrieben, bot der jungen Leserschaft, was in Schweizer Tälern und Dörfern schwer zu bekommen war: Schlafsäcke und Sonnenbrillen, Kameras und Filme, Taschenrechner, mehrere Walkman-Modelle und Kassetten, später auch die ersten Computer.

Als an Internet und soziale Netzwerke noch gar nicht zu denken war, erklärte "Grafitti im Print" das Musenalp-Konzept am griffigsten. Statt eigene Botschaften und Bilder auf Wände zu sprühen, schickte man sie auf den Berg und konnte hoffen, dass sie in einer der vier Ausgaben im Jahr Platz fanden. So sicherte sich das Magazin die Sympathie der Zielgruppe: der Inhalt von uns und für uns, das Heft gratis, die Versandprodukte billiger als woanders. Alles zusammen resultierte in einer phänomenalen Leserbindung, trotz gedrängter Textfülle in altmodischer Einheitsschrift und souveräner Verweigerung jeglicher Layouttrends. Noch heute findet man kaum Deutschschweizer um die 50, die sich nicht an Musenalp erinnern.

Als Autodidakt vom Berg, nach Abschluss der Handelsschule geprägt von langen Reisen nach Indien, avancierte Beerli bald zur Reizfigur der traditionellen Medienszene, aber auch zum charmant-querulantigen Interviewpartner in Talkshows und internationalen Fachmedien. Das amerikanische Branchenblatt Advertising Age kreierte für das "Musenalp Phenomenon" gar den Begriff Magalog als Kombination von Magazin und Katalog.

Dann kam das Jahr 1988. In Deutschland startete Bravo seinen Mädchen-Ableger Girl, bei den etwas Älteren kursierte der Würstchen-Taschentuch-Witz: Wer an einem deutschen Kiosk nach Wiener und Tempo verlangte, konnte nicht immer sicher sein, ob er Ess- und Schnupfbares bekam oder die beiden gleichnamigen Zeitgeist-Magazine. Deren kreative Köpfe um Markus Peichl und Lo Breier rangen vehement um den "New Journalism" und um die Deutungshoheit junger Befindlichkeit in Deutschland - und stammten ausgerechnet aus Österreich. Dass da ein Schweizer nervös wurde und den üppigen deutschen Markt nicht anderen überlassen wollte, war nachvollziehbar. Sprach nicht alles dafür, selbst den Sprung über den Bodensee zu wagen?

Wer ihm nahe war im Frühherbst vor 30 Jahren, spürte schon damals Beerlis Zerrissenheit. Bedächtig Pfeife rauchend auf dem Panorama-Balkon des ehemaligen Berghotels, das er mit seiner Frau Mariane zum "Zentrum Musenalp" umgebaut hatte, gab er allabendlich ein Bild gelassener Zufriedenheit ab. Aber in ihm gärte es. War riskantes Wachstum wirklich das, was er wollte? Welche Waffen würden deutsche Verlage zur Abwehr zücken? War es richtig gewesen, diesem Herrn Benz zu vertrauen, einem Lehrbeauftragten an der Münchner Uni? Der hatte seine Studenten einen deutschen Musenalp-Akzeptanztest machen lassen. Das Ergebnis war hervorragend ausgefallen. Der Text-Bild-Mix aus tiefer bis trivialer Emotionalität, Interviews, selbst erlebtem Abenteuer, Lebenszweifel und Lebenslust sprach in München die Jungen genauso an wie in der Schweiz.

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"Bei uns schreiben die jungen Leser selbst" - ...

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...mit diesem Prinzip füllte Othmar Beerli die Seiten der Musenalp.

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Dazu verkaufte er Lifestyleprodukte der Achtziger wie Walkman-Modelle, Sonnenbrillen und erste Computer.

Der routinierte Verlagsberater Kurt Benz war es auch, der mit Beerli die höchste Hürde auf dem deutschen Markt aus dem Weg räumte. Die Verteilung an Schulen wie in der Schweiz war hier nicht erlaubt; der Vertrieb über den Zeitschriftenhandel kam für ein Gratis-Heft nicht infrage. Außerdem wollte man groß starten: eine Million Auflage gleich zu Beginn.

Die kreative Lösung hieß damals noch Deutsche Bundespost. Die Idee: In allen Postfilialen soll stapelweise Musenalp ausliegen, im Gegenzug würde Beerli wertvolle Anzeigenseiten im Heft zur Verfügung stellen. Auf ihnen könnte die Post für alles werben, was junge Kunden ansprechen sollte, aber recht altbacken daherkam: vom Postsparbuch für die Ferienreise über Kreativ-Wettbewerbe für Schmuckblatt-Telegramme bis zu Appellen, Telefonhäuschen bitte nicht zu demolieren. Durchaus beeindruckt vom Erfolg in der Schweiz, blieben die Bundespostler zunächst skeptisch. Ein regionaler Test in Hessen überzeugte sie aber schließlich: 100 000 Hefte waren in dortigen Postämtern schnell vergriffen.

Deutsche Reporter kamen mit der Seilbahn zur Alp herauf, und schrieben von "Primaner-Prosa"

Die Verlockung war zu groß. Es musste sein. Beerli riskierte die offene Provokation der deutschen Medien und Versandhändler. Anfang November 1988 füllten eine Million Exemplare der Erstausgabe des Musenalp-Magazins (so der deutsche Titel) die Regale in allen 17 500 Postämtern der damals noch nicht wiedervereinigten Bundesrepublik.

Zum deutschen Starttermin war Musenalp Thema in Stern, Zeit-Magazin und Süddeutscher Zeitung. Reporter kamen zur Alp hinauf und wollten die Postkörbe sehen, in denen sich bereits Hunderte deutscher Leserbeiträge stapelten. Am heftigsten ätzte der Spiegel über die "herzerweichende Primaner-Prosa" und über den Verleger, der "mit Kitsch Kohle macht" und so "zum reichen Mann" geworden sei.

Das blieb Beerli allerdings nicht lange. Nach zwei Jahren des Höhenflugs, Steigerung der Auflage auf 1,25 Millionen nach der deutschen Wiedervereinigung, ansehnlichem Anzeigengeschäft und enormer Leser-Resonanz kam jäh der Absturz. Beerlis deutsches Versandhandelsgeschäft, angesiedelt in Haar bei München, wollte einfach nicht funktionieren. Jetzt rächte sich, dass der Überflieger von der Alp den Großen der deutschen Versandszene mit ihren Kooperationsangeboten die kalte Schulter gezeigt hatte. Aus dem Gelassenen wurde ein Gehetzter, verfolgt von offenen Druckrechnungen, bedrückt von Scheidung und Zwangsräumung des Bergdomizils. Die roten Zahlen rissen auch das Schweizer Kerngeschäft mit in den Abgrund.

Weit oben über dem Vierwaldstättersee betrieb Othmar Beerli - Autodidakt, Indienreisender und Reizfigur der Medienszene - sein Magazin unter Verweigerung jeder Layouttrends. (Foto: Urs Flueeler/Keystone)

Wer Othmar Beerli in den Jahren danach besuchen wollte, fand ihn in einem kleinen Balkonzimmer eines Altenheims im Tal, tief unten im Nebelmeer, einquartiert von der Sozialbehörde. Unterm Schreibtisch seufzte mitunter Jessi im Schlaf. Der wuschelige Hund von der Alp war Beerlis letzter Begleiter. Seine anderen Kontakte waren nur noch digital: Mit einem Deutsch-Professor in China wollte er Musenalp ins Internetzeitalter katapultieren, Nachahmern wollte er den "Raub meines Lebenswerks" verbieten, mit zweifelhaften Partnern wollte er das gedruckte Heft wiederbeleben.

Aber das digitale Zeitalter brauchte keine Musenalp mehr. Im September 2008 wanderte Beerli nach Thailand aus. Dort starb er nach drei Monaten. Er wurde 63 Jahre alt.

Der Autor war beim deutschen Musenalp-Magazin verantwortlich für PR, Kooperationen und Auswahl der Leserbeiträge.

© SZ vom 15.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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