Medienethik:Zweifel am Zweifel

Lesezeit: 2 min

Marie Sophie Hingst, hat auf ihrem preisgekrönten Blog sowie auf Podien über ihre angeblich jüdische Familie berichtet. Tatsächlich stammt sie aus einer evangelischen Familie. (Foto: Henrik Andree/Die Goldenen Blogger)

Die umstrittene Bloggerin und Historikerin Marie Sophie Hingst ist tot. Der "Spiegel" hatte aufgedeckt, dass sie sich als Jüdin ausgegeben hatte - und steht nun vor großen Fragen.

Von Laura Hertreiter

Bloggerin Marie Sophie Hingst, 31, ist tot. Sie sei am 17. Juli leblos im Bett in ihrer Dubliner Wohnung gefunden worden, die Polizei habe keine Anzeichen für Fremdverschulden gefunden, schreibt der Reporter Derek Scally in der Irish Times vom Wochenende. Zu den Umständen gab es zunächst keine offiziellen Angaben. Aber der Tod der Frau, die durch die Presse als Betrügerin bekannt wurde, wirft große medienethische Fragen auf.

Denn Ende Mai hatte der Spiegel berichtet, wie sich die Historikerin Hingst fälschlicherweise als Jüdin und Nachfahrin einer Familie von Schoa-Überlebenden ausgegeben hatte. In ihrem inzwischen abgeschalteten Blog "Read on my dear, read on", auf Podien, aber auch dem Archiv der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hatte sie demnach falsche Angaben gemacht.

"Das war keine News Story. Das war eine sehr aufgewühlte Frau, die Hilfe brauchte"

Die Spiegel-Recherche sorgte für großes Aufsehen, wurde von den Redaktionen im In- und Ausland aufgegriffen, der Preis "Bloggerin des Jahres 2017" wurde Hingst entzogen. Über einen Anwalt ließ sie damals mitteilen, es habe sich bei ihren Blog-Texten um Literatur gehandelt, nicht um Journalismus oder Geschichtsschreibung.

Und dann waren da noch die Themen, zu denen sie sich in verschiedenen Medien als Expertin äußerte: In einem Gespräch mit Deutschlandfunk Nova berichtete sie offenbar erfundene Geschichten über von ihr geleistete Sexualaufklärung junger indischer Männer in einer angeblich von ihr gegründeten Slumklinik in Neu-Delhi. In der Zeit schrieb sie unter Pseudonym eine offenbar ebenfalls erfundene Geschichte über die Sexualaufklärung männlicher syrischer Flüchtlinge in einer deutschen Arztpraxis. Der FAZ gab sie ein Interview zum selben Thema.

Auf der einen Seite stand also eine mutmaßliche Lügnerin, auf der anderen ein Magazin, das für die Wahrheit und das Andenken an Holocaust-Opfer kämpft - so stellte sich die Geschichte dar. Der ausführliche Text, den Derek Scally nun in der Irish Times über die Bloggerin veröffentlicht hat, wirft einen genaueren Blick auf beide Seiten.

Scally berichtet von einem Treffen mit Marie Sophie Hingst am Berliner Wannsee kurz nach Bekanntwerden der Vorwürfe. Er beschreibt eine Frau, die mit sich selbst spricht, irritierend auflacht, wild gestikuliert. Eine Frau, die ihm ein Stück Stoff gibt, einen Judenstern, als Erbe ihrer Großmutter, und damit ihre jüdische Abstammung beweisen will. "Ich dachte zuerst an den Holocaust", schreibt Scally, "dann dachte ich an Ebay." Er thematisiert seine Verunsicherung, seine Zweifel am Zweifel, bis er zu dem Schluss kommt: "Das war keine News Story. Das war eine sehr aufgewühlte Frau, die Hilfe brauchte."

Er habe seinen damals geplanten Artikel abgesagt und Hingsts Mutter alarmiert. Die antwortete, ihre Tochter habe "viele Realitäten", sie selbst habe "nur Zugang zu einer davon". Dem Spiegel-Reporter, der zuvor die Geschichte recherchiert und aufgeschrieben hatte, wirft sie vor, er habe nicht den kranken Menschen hinter den Tatsachen erkannt.

Der Spiegel hatte bereits Ende 2018 eine große Betrugsgeschichte erzählt. Damals in eigener Sache: Das Magazin musste Fälschungen durch einen Reporter im eigenen Haus kundtun, Chefs und Kollegen legten in großen Texten die "elende Seite im Leben des Claas Relotius" offen. Einige Monate später entdeckte das Blatt dann doch Strukturen in der Redaktion, die das Verfälschen von Artikeln womöglich begünstigt haben. Relotius selbst hatte bei seinem Geständnis laut Spiegel angegeben, er kämpfe mit psychischen Problemen. Auf die Frage, wie es ihm nun gehe, antwortete die Chefredaktion ein halbes Jahr später, man habe keinen Kontakt. Der Spiegel ließ am Sonntagabend auf SZ-Anfrage wissen, Marie Sophie Hingst habe auf den Verfasser des Artikels bei einem Treffen in Dublin im Mai "einen konzentrierten, souveränen und keineswegs psychisch angegriffenen Eindruck" gemacht. Dennoch bleibt die Frage, in welchen Fällen der Mensch, über den Journalisten schreiben, wichtiger ist als seine Geschichte.

© SZ vom 29.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: