Magazin:Die Comic-Erklärer

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"Katapult" macht mit einfachen Karten und Infografiken Politik zum Anschauen. Das Magazin sitzt in Greifswald und erscheint auf Papier - mit wachsender Auflage.

Von Kathrin Müller-Lancé

Es ist 16.56 Uhr, da ruft jemand durch den Raum: "Wir sind fertig, es gibt nichts mehr zu verpacken!" Eigentlich hatte die Redaktion des Katapult -Magazins vor, bis Mitternacht die Abos für die neue Ausgabe zu verpacken. Doch irgendwie sind an diesem Septembertag so viele Helfer da gewesen, dass sie schon am späten Nachmittag fertig sind. Vom eigenen Erfolg ein wenig überrumpelt - mal wieder.

In Zeiten, in denen immer mehr Magazine an Auflage verlieren und sogar eingestellt werden, wächst Katapult beharrlich. Dabei macht die Redaktion eigentlich alles anders als die anderen: Sie sitzt nicht in der Medienstadt Berlin, sondern in Greifswald. Sie setzt in der Hochphase der Digitalisierung auf Print und will die so abstrakten Sozialwissenschaften anschaulich machen. Und sie hat es sich eben in den Kopf gesetzt, die mittlerweile 21 000 Abonnements nach wie vor selbst zu verpacken und zu verschicken. Auch wenn das am Ende wahrscheinlich teurer kommt, als wenn man ein Unternehmen damit beauftragen würde.

Der Chefredakteur sagt: "Wir entscheiden vieles unabhängig von wirtschaftlichen Ratschlägen.

"Wir entscheiden vieles unabhängig von wirtschaftlichen Ratschlägen", sagt Chefredakteur Benjamin Fredrich. Für den heutigen Einpacktag hat er seine Finger mit Tape umklebt, damit die Paketschnüre nicht so einschneiden. Die Eingangshalle, in der er steht, sieht aus wie eine Mischung aus Paketlager und Start-up: Circa 30 Freunde und Bekannte der Redaktion sind hier im Einsatz. Überall stapeln sich Briefumschläge, auf dem Boden die Reste von Kartons und Schnüren, in den Ecken warten bereits fertig gepackte Europaletten, mit Frischhaltefolie umwickelt. Fredrichs Vater wird sie am nächsten Tag mit einem Lkw zum Paketzentrum fahren, das liegt eine Autostunde entfernt in Neubrandenburg.

Benjamin Fredrich hat Katapult im Jahr 2015 gegründet. Damals war er noch Student in Greifswald, Politikwissenschaften. Während er seinen Kommilitonen zusah, wie sie sich darum bemühten, Artikel in Zeitungen unterzubringen, hatte er eine ganz andere Vorstellung: unabhängig von einer Redaktion sein, etwas Eigenes machen. Das Eigene wurde Katapu lt - Magazin für Kartografik und Sozialwissenschaften. Los ging es mit einem Stipendium des Bundeswirtschaftsministeriums.

Schon damals wurde Fredrich von Beratern empfohlen, doch nach Berlin zu gehen. Er aber wollte nicht weg aus seiner Heimatstadt. "Praktischerweise kriegt man hier vor Ort gar nicht so viel mit vom Leiden der Verlagsbranche", sagt Fredrich. Zwar sei es schwieriger, dort Mitarbeiter zu finden - viele aus dem Team kommen aus Leipzig und Berlin -, aber man schaffe es durchaus auch, Leute nach Greifswald zu kriegen.

Wie er da so redet und durch die Räume führt, in Shorts und mit Dreitagebart, wirkt Fredrich weitaus weniger bissig als in seinen Editorials, in denen er über Bundesgesundheitsminister Jens Spahn schon mal schreibt: "Er ist zu dumm für den Job und hält zu selten die Fresse" und über die Klimabewegung: "Hätte es zu meiner Schulzeit schon 'Fridays for Future' gegeben, wäre ich da auch Montag, Dienstag, Mittwoch und Donnerstag hingegangen."

Fredrich ist 32 Jahre alt und vielleicht der einzige Chefredakteur Deutschlands, der nebenher noch promoviert, zu radikaler Demokratietheorie. Zum Schreiben an seiner Doktorarbeit komme er aber mittlerweile nur noch im Urlaub, erzählt er, bei der letzten Vorstellung an der Uni sei sie "mittel bis schlecht" angekommen.

Mit dem Magazin läuft es da schon besser. Die Auflage ist seit der Gründung kontinuierlich gestiegen - von 150 verkauften Exemplaren auf mehr als 21 000. Dazu kommen knapp 200 000 Abonnenten auf Facebook, 85 000 auf Instagram und 9000 auf Twitter. "Das fühlt sich so ein bisschen schneeballig an", sagt Fredrich.

Das Redaktionsteam von Katapult - in der Mitte (Vierter von l.) steht Gründer und Chefredakteur Benjamin Fredrich. (Foto: KATAPULT)

Damit ist Katapult noch lange nicht vergleichbar mit populären naturwissenschaftlichen Magazinen wie Geo oder National Geographic. Deren Auflage liegt bei weit über 100 000 verkauften Exemplaren, allerdings mit sinkender Tendenz - und mit Startvorteil. Denn Geo und National Geographic erscheinen schon seit Jahrzehnten. In den Sozialwissenschaften hingegen beschränkte sich das Angebot bisher vor allem auf akademische Zeitschriften und ein Fachpublikum. "Dabei beschäftigen sich die Sozialwissenschaften doch mit dem eigentlich Spannenden: nicht nur mit toten Dingen und Tieren, sondern mit dem Menschen", sagt Fredrich.

Katapult hat es sich zu eigen gemacht, die sozialwissenschaftlichen Artikel mit geradezu kindischen Grafiken zu kombinieren. Ein Leser habe das mal "Comics von Karten" genannt, diese Definition gefällt Fredrich. Das Cover der aktuellen Ausgabe preist in einer Statistik die ökologischen Vorzüge des Mehlwurms, in einer Karte zu Vorurteilen über Mecklenburg-Vorpommern bezeichnet die Redaktion ihr Bundesland schon mal als "Blinddarm unter den Bundesländern". Es geht aber auch ernsthafter, die Themen in den Ausgaben reichen von Spähsoftware-Exporten über staatliche Parteienfinanzierung bis hin zu Gewalt gegen Frauen in Lateinamerika.

Die größte Herausforderung dabei: die Balance zu halten zwischen der Optik und dem wissenschaftlichen Anspruch. Die Karten dürfen nicht zu kompliziert aussehen, müssen aber gleichzeitig faktisch richtig sein. Nicht immer gelingt das. "Jede Karte verfälscht die Wirklichkeit", sagt Fredrich. Es werde immer vereinfacht, weggelassen, das fange schon mit der Weltkarte an, die die Größe der Kontinente verzerrt darstelle.

Auch sprachliche Genauigkeit ist bei der Arbeit mit wissenschaftlichen Quellen wichtig. Für Empörung sorgte in der Vergangenheit zum Beispiel ein Artikel mit der Überschrift: "Israel greift Palästina an, wenn die Medien abgelenkt sind". In der Studie, auf der der Artikel aufbaute, waren aber nicht - wie der Titel suggeriert - nur Angriffe untersucht worden, sondern militärische Aktivitäten allgemein, die auch Verteidigungsversuche einschließen können.

Ein Fehler kann bei Katapult aber auch den Anlass für eine neue Recherche geben. So war das, als Fredrich in einem Artikel den Nazi-Begriff "gottgläubig" verwendet hatte. Auf die Beschwerde einer Leserin hin untersuchte er in der darauffolgenden Ausgabe verschiedene Begriffe auf ihre NS-Herkunft, unter der Überschrift: "Wir nutzen Nazibegriffe und nur eine merkt's".

Die Katapult-Artikel stammen von externen Wissenschaftlern oder den eigenen Redakteuren. Aktuell hat das Magazin 16 Mitarbeiter, die Altersspanne reicht von 24 bis 36 Jahre, die der Fächer von Jura über Soziologie bis hin zu Archäologie. "Wir wollen schön bunt bleiben", sagt Fredrich.

Eine typische Grafik. (Foto: KATAPULT)

Dazu gehört auch, dass bei Katapult fast alle alles machen. Wer hier anfängt, wird erst einmal ins Grafikprogramm eingelernt - und muss auch Verwaltungsaufgaben übernehmen. "Wir sind noch zu klein, um uns wirklich zu spezialisieren", sagt Fredrich. Das Magazin finanziert sich vor allem über die Abonnements. Zusätzliches Geld kommt durch den Einzelverkauf in Bahnhofsbuchhandlungen, Spenden und den Verkauf von Merchandise-Produkten herein. Im Büro lagern Spiele wie das Philosophen-Quartett (bei dem Denker zum Beispiel in Kategorien wie "Lesbarkeit" und "Wikifaktor" verglichen werden können), Faltposter und Postkarten. Anzeigenplätze verkauft Katapult nicht, die wenigen Anzeigen, die im Heft erscheinen, entstammen einem Anzeigentausch - zum Beispiel mit der Titanic oder der Süddeutschen Zeitung.

Noch so eine Besonderheit: Bei Katapult verdienen alle Mitarbeiter das Gleiche. Das Gehalt ist mit den Abos im Laufe der Jahre gestiegen, gerade liegt es bei 2250 Euro brutto. Nur der Programmierer bekommt etwas mehr, mit einem geringeren Gehalt bekommt man laut Fredrich auf dem Markt einfach niemanden. Warum ihm die Gleichheit so wichtig ist? "Wir leben davon, dass das Team so eng ist", sagt der Chefredakteur. "So kriegen wir Sachen geschafft, die sonst nur größere Teams hinkriegen würden." Das Einheitsgehalt entlaste ihn in seiner Funktion als Chef: "Das macht ja eigentlich keinen Spaß, da ist man der Außenseiter. Deshalb habe ich mir überlegt: Ich koppel das Gehalt an die Abos, dann muss ich eigentlich gar nichts mehr machen."

Und für die Zukunft? Gerade sei man in einer Phase der finanziellen Erholung, sagt Fredrich - und klingt dabei auf einmal doch ein bisschen wie ein Berater. Er würde gerne ein kleines Entwicklerteam einstellen, ein paar zusätzliche Büros im Gebäude mieten. Und dann ist da längerfristig noch dieser andere, etwas größere Plan: Fredrich packt die Autoschlüssel und fährt kurzerhand zu einem alten Industriegelände in der Nähe, eine ehemalige Schlachterei. 4500 Quadratmeter Grundstück, die er gern kaufen würde. Mit dem Eigentümer hat er schon verhandelt, es fehlt noch eine Umbaugenehmigung von der Stadt.

Die alte Halle auf dem Gelände würde Fredrich gern als Lager nutzen, daneben ein Redaktionsgebäude bauen. Katapult steht jetzt an der Schwelle. Fredrich sagt: "Wir könnten noch größer werden." Er sagt aber auch: "Hier hätte unser Bürohund Berta endlich Auslauf."

© SZ vom 08.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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