Fernsehen im Netz:Am reißenden Strom

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Die Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon, in Deutschland erst skeptisch empfangen, schaffen die seltene Verbindung von Geld und Kreativität - und laufen so den klassischen Sendern den Rang ab.

Von David Pfeifer

Es liegt in der Natur der Zeit, dass wir sie nicht erfassen können, während sie vergeht. Erst abgelaufene Zeit gerinnt rückblickend zu etwas, das einen Anfang oder ein Ende haben mag. Manchmal ahnt man auch, dass man sich gerade in einem Abschnitt befindet, der, wenn er einmal zur Vergangenheit geworden ist, als ungewöhnlich gelten wird.

Derzeit erleben wir so etwas wie eine goldene Ära der Streaming-Unterhaltung, weil sich einige Firmen im kreativen Wettbewerb miteinander befinden, so wie einst die großen Hollywood-Studios. Es geht dabei nicht nur um die absoluten Zuschauerzahlen, sondern darum, ein möglichst spannendes Programm zu bieten - um im Gespräch zu bleiben oder ins Gespräch zu kommen. Denn gerade jetzt werden die Marktanteile gewonnen, die in fünf oder zehn Jahren über den Erfolg der Unternehmung entscheiden könnten.

Am vergangenen Wochenende meldete Netflix, eine magische Grenze überschritten zu haben: 100 Millionen Menschen weltweit abonnieren nun den Dienst. Am Mittwoch wurde die Expansion nach China verkündet, ein riesiger Markt, potenziell weitere 100 Millionen Neukunden, was die Entwicklung befeuern dürfte, denn mehr Abonnenten bedeuten mehr Investment in Serien und Formate. Für Deutschland erhob eine Studie des Meinungsforschungsinstituts You Gov kurz vor Ostern Zahlen, die ebenfalls deutlich machten, dass Streaming kein Nischenphänomen mehr ist. Ein Drittel aller Deutschen streamt, die meisten übrigens bei Amazon Prime mit 64 Prozent Marktanteil.

Als Netflix nach Deutschland kam, waren viele Beobachter skeptisch: Da man hierzulande seine Gebühren so oder so zahlen und bereits mit 30 oder mehr Sendern auf der Fernbedienung kämpfen muss, hielt man das Bedürfnis der Deutschen nicht für riesig, noch eine Fernbedienung auf den Couchtisch zu legen und seine Kreditkarteninformationen einem weiteren Anbieter anzuvertrauen. Tatsächlich sieht es derzeit so aus, als könnte das eine Fehleinschätzung gewesen sein.

Das liegt nicht nur an den vielen ungewöhnlichen und interessanten Serien, die man dort zu sehen bekommt. Auf Nachrichten und aktuellen Sport muss man zwar noch verzichten (Amazon ist derzeit stark an Live-Sport interessiert), aber im Großbereich Kultur und Unterhaltung werden Netflix und Amazon Prime zum Vollprogramm. Eine reichhaltige Auswahl für Kinder, die an regnerischen Sonntagen bespielt werden wollen, findet sich neben Shows und Dokumentationen. Eine parallele TV-Welt, die man im Grunde kaum noch für etwas verlassen muss. Es sei denn, der Kühlschrank leert sich.

Langsam herrscht bei Serien ein Gruppendruck wie bisher bei Diskussionen über Fußball

Vor wenigen Tagen zum Beispiel präsentierte Netflix das neue Programm des Stand-up-Comedians Louis C. K., lange einer der Stars des Bezahlsenders HBO. Außerdem gehört Louis C. K. wohl zum Besten, was man überhaupt an Comedy sehen kann. C. K. ist in Deutschland ein Unbekannter, was daran liegt, dass er seine Witze auf Englisch macht (auf Netflix immerhin mit deutschen Untertiteln) und dabei auf einem Humorlevel agiert, bei dem man nicht recht weiß, ob man gerade lachen oder entsetzt die Luft einsaugen soll. So wie Louis C. K. früher bei HBO zu sehen war, wechselte Jeremy Clarkson nach seinem Rausschmiss von der BBC mit seiner Auto-Comedy-Show zu Amazon, wo er sein Unwesen nun noch viel extremer treiben darf. Die Streaming-Portale liefern sich einen regelrechten Wettbewerb um Stars, die ihre Fans mitziehen.

Serien, von denen man früher nur in der englischsprachigen Presse las, werden einem auf diesem Weg ebenfalls zugeführt: Derzeit ist die BBC-Abenteuer-Serie Taboo auf Amazon Prime zu sehen, die jeweils dritte Staffe l von Fargo und Better Call Sau l auf Netf lix. Dazu anspruchsvolle Doku-Reihen wie Five Came Bac k oder Abstrakt - man kommt kaum noch hinterher, wenn man ab und an noch Nachrichten sehen oder ein Buch lesen möchte.

Der Effekt dieser ungewöhnlichen Produktionsschwemme: Bei Abendkonversationen in gentrifizierten Milieus, in denen vor wenigen Jahren noch bramarbasiert wurde, man könne Filme eigentlich nur im Original sehen oder coole Serien ausschließlich auf DVD aus den USA bestellen, wird nun über Louis C. K. gelacht oder über den schmierigen Anwalt Saul Goodmann diskutiert. Auf diese Weise entsteht derselbe Gruppendruck wie bei Diskussionen über Fußball, nur dass die Gruppe sich exklusiver fühlen darf. Und bei den anderen wächst die Sorge, etwas zu verpassen.

Der Aufstieg der Streaming-Dienste hat eine kreative Phase eingeläutet, die rückblickend mit dem sogenannten New Hollywood vergleichbar sein wird. In den 1970er-Jahren brach das herkömmliche Produktionssystem der US-Studios zusammen. Die Kinos brauchten neue Inhalte, woraufhin die wildesten Kreativen Zugänge zum Distributionssystem bekamen. Es entstanden kommerziell erfolgreiche Kunstfilme wie Der Pate und Taxi Driver. Diese Phase endete, als mit Star Wars das Franchise-Kino seinen Siegeszug antrat.

Geld und Kreativität sind sich im Kino danach nie wieder so nah gewesen wie derzeit beim Streaming, allein Amazon will in diesem Jahr 4,5 Milliarden Dollar in Filme und Serien investieren. Auch deswegen wird gerade in der EU eine Richtlinie erarbeitet, die in einer Art Quote münden soll, um europäische Produktionen zu fördern. Wer mal in die deutsche Amazon-Serie You are wanted reingesehen hat, ahnt, dass das keine gute Idee ist.

Und abgesehen von der überlegenen Produktionstechnik der US-Amerikaner ist Streaming eben nicht Fernsehen. Der Tatort muss konzipiert sein für Menschen mit Altersweitsicht und deren Enkel gleichermaßen. Die einen sollen noch folgen können, die anderen nicht sofort einen narkoleptischen Anfall bekommen. Statt Spitze ist Breite gefragt. Baz Luhrmann zum Beispiel, einer der wenigen Regisseure, die noch sehr spezielles Kino mit großem Budget drehen konnten ( Moulin Rouge, Der große Gatsby), fand im vergangenen Jahr auf Netflix eine neue Heimat. Vor drei Wochen wurde der zweite Teil seiner Hip-Hop- Serie The Get Down freigeschaltet, die Luhrmann mit großem Aufwand zu einem bunt schillernden Popkultur-Telekolleg hochgejazzt hat. The Get Down wendet sich an eine Schnittmenge von Menschen, denen Kendrick Lamar und Ein Käfig voller Narren gleichermaßen gefällt. So viele können das nicht sein.

Große Liebe allein genügt nicht. Wird das alles in ein paar Jahren ein Geschäftsmodell? Oder nicht?

Wie viele Menschen es tatsächlich sind, darüber geben leider weder Netflix noch Amazon Auskunft, die Abrufzahlen von Louis C. K. und The Get Down bleiben unbekannt. Doch wie groß die Liebe zu einzelnen Stars oder Serien ist, wird irgendwann hinter der Frage zurücktreten müssen, wie viele Zuschauer diese Liebe tatsächlich teilen - und wie sich die Abo-Zahlen in der Folgezeit entwickeln. Ob für die Anbieter der alternativen Fernsehwelt langfristig ein tragfähiges Geschäftsmodell daraus entsteht. Derzeit wird bei Netflix & Co. vor allem viel investiert.

Vielleicht wird Streaming einmal das bessere Fernsehen. Rückblickend könnte es aber auch so aussehen, dass jetzt, wo viel Geld auf ungewöhnliche Ideen trifft, ein Kanon entsteht, der in zehn, 20 oder 30 Jahren als Ergebnis einer kurzen, überschäumenden Kreativität angesehen wird - immer und immer wieder. Als Wiederholungsschleife einer goldenen Zeit.

© SZ vom 27.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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