Fernsehen im Internet:Die andere Flimmerkiste

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Soziale Netzwerke wie Snapchat oder Facebook setzen verstärkt auf eigene Shows und Serien. Traditionelle TV-Sender sehen dem entspannt zu - noch.

Von Jürgen Schmieder

Evan Spiegel ist ein Genie, ihm sei jede der mehreren Milliarden Dollar gegönnt, die er mit seinem sozialen Netzwerk Snapchat verdient. Er versteht, was junge Menschen haben wollen und was sie künftig möchten sollen. Man muss trotzdem nicht mit heruntergeklappter Kinnlade dastehen und applaudieren, nur weil Spiegel nun Fernsehserien mit Drei-Minuten-Episoden produzieren will. Auch einem genialen Visionär darf man antworten: Das gab's doch alles schon einmal.

Im Jahr 2005 etwa erschien ein Handy-Ableger des Echtzeit-Thrillers 24, jede Folge dauerte etwa eine Minute. Drei Jahre später verkürzten die Produzenten der Serie Lost die Wartezeit auf neue Folgen mit den Videoschnipseln Missing Pieces. Es ist also keine Revolution, die Spiegel da plant. Dennoch sind seine Pläne interessant, weil sie symbolisch stehen für Stärken und Schwächen der Technologie-Konzerne bei ihrem Versuch, von den Umbrüchen in der Unterhaltungsbranche zu profitieren.

Zulieferer werden angewiesen, hochformatig zu senden, weil die Nutzer ihr Telefon so halten

Knapp 183 Milliarden US-Dollar werden Unternehmen in diesem Jahr weltweit für traditionelle TV-Werbung ausgeben, hinzu kommen Investitionen für Werbefilme vor Videos im Netz. Nicht nur Snapchat, sondern auch Facebook, Apple oder Twitter würden gerne möglichst viel davon auf die eigenen Konten schaufeln. Im Werbeportfolio sozialer Netzwerke sind zwar zahlreiche mittelständische Firmen vermerkt, aber kaum die mit den wahnwitzigen Werbebudgets: Autobauer und Brauseproduzenten, die für 30 Sekunden Werbezeit während des Football-Endspiels schnell mal 5,5 Millionen Dollar überweisen.

Snapchat setzt auf die kurze Aufmerksamkeitsspanne und popkulturelle Affinität seiner Nutzer. Bei Watch Party: The Bachelor etwa sind in der unteren Bildschirmhälfte Szenen der Datingshow The Bachelor zu sehen, oben debattieren Fans - und am Ende einer Vierminutenfolge hat der Zuschauer ganz nebenbei auch zwei Werbespots konsumiert. Der Komiker Jimmy Fallon präsentiert ein Kondensat seiner Late-Night-Show, der CNN-Journalist Peter Hamby liefert pointierte Nachrichten. Die Sendungen sind relativ günstig, die Produktionskosten liegen zwischen 6000 und 45 000 Dollar pro Folge. Zum Vergleich: Eine Episode der Comedyserie The Big Bang Theory kostet mehr als neun Millionen Dollar. Diese Ausgaben spart sich Snapchat, wenn es Bonsai-Versionen von fürs TV ohnehin produzierten Formaten sendet.

"Ich will nicht der Killer des Fernsehens sein", sagt Nick Bell, der bei Snapchat für externe Inhalte verantwortlich ist: "Wir helfen den Produzenten und Sendern dabei, neue Zuschauer zu finden." Die Zulieferer werden allerdings selbstbewusst darauf hingewiesen, sich doch bitteschön kurz zu fassen und gefälligst hochformatig zu senden, weil die Snapchat-Nutzer nun mal so ihr Telefon halten. Hamby etwa musste Barack Obama stehend interviewen, weil das auf Snapchat besser rüberkam.

Dabei will das Unternehmen nicht in erster Linie eigene Inhalte produzieren (und dafür bezahlen müssen), sondern lediglich die Werbeeinnahmen mit den Produzenten teilen. Es gibt bereits Verträge mit zahlreichen Sendern, bis zum Ende des Jahres sollen täglich mindestens zwei neue Shows starten - jede Episode soll, wie alle Snapchat-Inhalte, nach kurzer Zeit wieder gelöscht werden. Spätestens seit der Bekanntgabe der verheerenden Quartalszahlen des Mutterkonzerns Snap ist klar, was das Ziel dieser Strategie ist: Die Plattform braucht dringend mehr Nutzer, die mehrmals täglich und möglichst lange dort verweilen.

Auch Facebook möchte einem Bericht des Business Insiders zufolge qualitativ hochwertige Serien selbst produzieren. Aus dem Umfeld des Unternehmens heißt es aber auch, dass Gründer Mark Zuckerberg von Snapchat besessen ist und das Durchschnittsalter der Nutzer dringend senken will. Neben anspruchsvollen Serien soll es deshalb auch kürzere Inhalte geben, zudem soll sich der 2,3-Milliarden-Dollar-Zukauf des Virtual-Reality-Unternehmens Oculus VR endlich rentieren: Geplant ist eine Datingshow, bei der sich die Kandidaten erst virtuell treffen und dann über ein Date in der wirklichen Welt entscheiden. Außerdem wird das Netzwerk künftig Baseball- und Fußballspiele zeigen.

Die Pläne von Twitter sind ähnlich: Durch eine Kooperation mit dem Medienunternehmen Bloomberg will das Netzwerk Rund-um-die-Uhr-Videonachrichten anbieten; Apple wiederum plant eine Reality-Show, bei der Kandidaten um Investoren für Apps werben, die dann im App Store feilgeboten werden sollen.

Was all diese Pläne eint: Sie klingen weniger nach Revolution als nach dem Versuch, Vorhandenes ins eigene Geschäftsmodell zu pressen. So wie Snapchat kürzere Versionen etablierter Formate sendet, produziert auch Facebook die Übertragungen der Baseball-Partien nicht selbst, sondern bedient sich bei den Sendern der Vereine. Amazon übernimmt bei Footballspielen Bilder und Werbefilme des Ligasenders NFL Network.

Die Internet-Konzerne wissen, dass hochwertige Inhalte teuer sind, selbst für Silicon-Valley-Visionäre. Netflix etwa investierte noch vor dem ersten Drehtag 100 Millionen Dollar in die erste Staffel von House of Cards - fast so viel, wie Snap im vergangenen Quartal verdient hat. Das herkömmliche, werbefinanzierte TV-Modell mag zwar überholt sein. Es ist aber noch unklar, welches Modell sich am Ende durchsetzen wird: Streamingportale mit Abonnements, mobile Highspeed-Serien, Pay-TV-Kanäle oder der Einzelverkauf von Inhalten wie etwa einem Sportereignis.

Die traditionellen TV-Sender bemerken nicht ohne Panik, dass ihr jahrzehntelang so profitable Geschäftsmodell nicht nur bröckelt, sondern einstürzt. Sie kontern mit eigenen Streamingportalen und mobilen Plattformen, sie kooperieren aber auch mit den sozialen Netzwerken, anstatt sie zu bekämpfen - weil sie auf neue Distributionswege angewiesen sind. Auf die ehrgeizigen Pläne von Facebook, Snapchat und Twitter reagieren sie bislang deshalb eher begeistert als panisch. Sie wissen: Einen Großteil der Inhalte, die Tech-Unternehmen gerne senden möchten, produzieren sie immer noch selbst.

© SZ vom 22.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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