Echtzeitdoku:Moment mal

Lesezeit: 3 min

"24h Europe" porträtiert 60 junge Leute aus 26 Ländern und möchte darüber auch die großen Zukunftsthemen für den Kontinent abbilden. Der Blickwinkel sollte dabei bloß nicht zu deutsch sein.

Von Anna Reuß

Es sind junge Menschen mit ihren Lebensbrüchen und Hoffnungen, die die Zukunft Europas prägen: eine Studentin aus Norwegen etwa, die das Massaker auf der Insel Utøya überlebte, oder der junge Belgier, der unbedingt Priester werden möchte, oder eine Polin, die für Frauenrechte kämpft. In der Echtzeitdoku 24h Europe werden 60 junge Europäer aus 26 Ländern porträtiert. Diesen Samstag wird sie bei Arte, im RBB, SWR und bei ARD-Alpha von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr am nächsten Tag ausgestrahlt. Online wird Arte die Doku, neben Deutsch und Französisch, auch auf Spanisch, Italienisch, Polnisch und Englisch zeigen.

Das Format beschreibt auch die Zerbrechlichkeit des einzigartigen Gebildes, das Europa ist

Die Idee, 24 Stunden lang minutiös die Vielfalt des Kontinents abzubilden, stammt vom Dokumentarfilmer Volker Heise, dem Schöpfer des mehrfach preisgekrönten 24-h-Formats. Bei 24h Europe war er eher hinter den Kulissen tätig. Weil Heise bereits mehr als zehn Jahre Erfahrung mit derart aufwendigen Projekten hat, war seine Aufgabe diesmal die "Supervision", wie er sagt. Das Konzept hat Heise schon 2008 erfunden - in kleinerem Rahmen: Für 24h Berlin wurde das Leben in der deutschen Hauptstadt an einem Septembertag von 80 Drehteams eingefangen und genau ein Jahr später als 24-stündiges TV-Programm ausgestrahlt. Fünf Jahre später folgte 24h Jerusalem. "Wir haben dazugelernt und uns mehr getraut", sagt Heise. 2017 wagte man sich mit 24h Bayern - Ein Tag Heimat an ein ganzes Bundesland in seinem Nebeneinander von Stadt- und Landleben. Bei allen Projekten wurden vorab ausgewählte Protagonisten begleitet. Auch die Echtzeit-Erzählweise blieb gleich: Was etwa um 14 Uhr gedreht wurde, wird auch gegen 14 Uhr ausgestrahlt.

Diesmal waren insgesamt zehn europäische Sender und zwölf Redakteure in fünf Ländern beteiligt. Herausgekommen ist ein Kaleidoskop, das zum Beispiel eine junge Frau aus Lissabon zeigt, die zwar studiert hat, aber keinen Job findet. Sie fährt Touristen in einem Tuktuk durch die portugiesische Hauptstadt und kommt damit am Monatsende auf etwa 1000 Euro. Porträtiert wird auch ein junger Mann namens Ibrahim, der in Südfrankreich Medikamente ausfährt und sich selbst als Salafist bezeichnet, oder Yannis aus Griechenland, der eigentlich Lehrer ist, aber sagt: "Es war Sommer und ich war mal wieder gefeuert worden." Alle 60 Protagonisten stehen gleichermaßen für Europa.

Auf den ersten Blick zeigt 24h Europe junge Europäer, doch das Format beschreibt auch die Zerbrechlichkeit des einzigartigen Gebildes, das Europa ist. "Wenn in Athen die Wirtschaft kriselt, dann kriselt sie auch im Rest von Europa", meint Heise. Trotz der Größe des Kontinents und der zahlreichen unterschiedlichen Kulturen sei alles eng verknüpft. Bewusst haben sich die Macher deshalb entschieden, auch junge Leute in Russland oder der Ukraine zu zeigen, also das Leben in Europa als Kontinent, nicht nur innerhalb der Europäischen Union. Der Ukrainekonflikt betreffe nun mal die Menschen in Europa.

Dabei wird deutlich, dass nicht alle dieselbe Idee von Europa haben. "Es geht darum, komplexe Dinge zu erzählen", sagt Heise. Tatsächlich sind viele Szenen unangenehm anzuschauen: Da ist etwa ein italienisches Rentnerpaar, das von jungen Sozialarbeitern Essenspakete bekommt, weil ihre kleine Rente eben nicht zum Leben reicht, und das hemmungslos über Migranten aus Afrika schimpft. Heise sagt, das Team wollte mit der Kamera dorthin, wo es wehtut. Szenen wie diese gebe es in ganz Europa, jeden Tag. Sie stehe pars pro toto für die verlorene Arbeiterklasse eines ganzen Kontinents.

Um zu verhindern, dass die einzelnen Geschichten zu sehr aus der deutschen Perspektive erzählt werden, sei eine starke Arbeitsteilung notwendig gewesen. Dabei wurde darauf geachtet, dass in jedem Team mindestens ein Muttersprachler ist. Das blieb nicht ohne Reibungen: Alleine die Herangehensweise der Franzosen und Deutschen war "durchaus unterschiedlich", wie es Heise vornehm umschreibt. Diese Reibung zwischen den Kulturen werde auch auf dem Bildschirm zu sehen sein.

"Egal ob Serbien oder Spanien, wir haben überall mit Leuten vor Ort versucht herauszufinden, was wir erzählen möchten", sagt Heise. Den Machern der Berliner Produktionsfirma Zero One Film war es wichtig, die großen aktuellen Entwicklungen abzubilden - etwa den Erfolg populistischer Parteien, den Mobilitätswandel oder die Arbeitslosigkeit. Und so kann 24h Europe auch als Zeitkapsel verstanden werden, die in zehn oder 20 Jahren außergewöhnlich detaillierten Aufschluss über die großen Fragen der jungen Europäer von heute gibt. Dabei habe der 24-stündige Blick auf Europa keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sagt Heise. 24h Europe sei die Momentaufnahme eines Kontinents - nicht mehr, aber auch nicht weniger.

24h Europe , Arte, RBB, SWR, ARD-alpha, Samstag, ab 6 Uhr.

© SZ vom 03.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: