"Deutschland spricht":Wenn Welten sachte aufeinanderprallen

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In Leipzig sprachen Student Korbinian Geyer (links) und Ingenieur Hardy Sandig miteinander - und machten anschließend noch dieses Selfie. (Foto: privat)

Zwei Leser, die unterschiedlicher kaum sein könnten, haben sich auf Medieninitiative zum gepflegten Streitgespräch in Leipzig getroffen. Insgesamt debattierten mehr als 8400 Menschen.

Von Antonie Rietzschel

Die Zukunft Deutschlands sieht finster aus, glaubt man den Worten von Hardy Sandig: "Der Sturm wird stärker. Über Jahre wird es eine rechte Politik der Abschottung geben", sagt er. Sandig sitzt im Café Puschkin auf der Leipziger Karl-Liebknecht-Straße. Der perfekte Zufluchtsort an diesem Sonntagnachmittag. Draußen fegt der Wind und Blätter fallen von den Bäumen. Drinnen schmeichelt das schummrige Licht den Gesichtern, vermittelt Kuschligkeit für Verliebte - oder unterstreicht düstere Prophezeiungen. Es kommt auf die Perspektive an. Wegen des Perspektivwechsels ist Hardy Sandig hier. Er hat sich wie mehr als 8400 andere Menschen bei der Aktion " Deutschland spricht" angemeldet, einer Aktion, für die sich elf Medienhäuser (darunter Zeit Online, Tagesschau, Spiegel Online und SZ ) zusammengeschlossen haben. Sandig wollte mit jemandem ins Gespräch kommen, der ausdrücklich nicht seiner Meinung ist. Jemandem wie Korbinian Geyer.

Auf den ersten Blick trennt die beiden vieles. Sandig kommt aus dem sächsischen Freiberg, ist 54 Jahre alt, arbeitet seit Jahren als Ingenieur. Korbinian Geyer ist aus München, 27 Jahre alt, studiert im siebten Semester Wirtschaftsinformatik. Er lebt in einer WG mit drei Mitbewohnern. Sandig wohnt in einer 140-Quadratmeter-Wohnung.

Beide haben bei der Registrierung für "Deutschland spricht" sehr unterschiedlich auf ausgewählte Fragen zu Sexismusdebatte, Islam und Verkehrspolitik geantwortet. Sandig zieht aus der Hosentasche einen gefalteten Zettel heraus, auf dem die einzelnen Themen stehen. "Sollte Deutschland seine Grenzen strikter kontrollieren?", so die erste Frage. Sandig hatte sie vorab online mit "Ja", Geyer mit "Nein" beantwortet.

Geyer: "Wir sind doch eigentlich ganz froh, dass es dieses Schengen-Abkommen gibt. Dass wir in Europa ohne Visum herumreisen können."

Sandig: "Wir brauchen auch keine innereuropäischen Grenzkontrollen, wenn die Außengrenzen ausreichend geschützt sind - wie auch immer das aussehen mag."

Geyer: "Ich glaube nicht, dass es eine Grenze geben kann, die unüberwindbar ist."

Sandig: "Das ist auch Schwachsinn. Die Frage ist, was kann man tun, damit keiner kommt - wir haben das Elend doch mit ausgelöst, durch Kolonialpolitik, durch Lohndumping. Ich kann das auch verstehen, wenn Menschen aus wirtschaftlichen Gründen hierherkommen. Mein Bruder ist zu DDR-Zeiten in den Westen ausgereist."

Sandigs Sozialisierung in der DDR spielt während des Gesprächs immer wieder eine Rolle, auch beim Thema Gleichberechtigung von Mann und Frau. In der DDR, sagt er, habe es Emanzipation gegeben, ohne, dass man viel darüber habe reden müssen.

Aber auch im Bereich Religion kommt Sandig auf seine Vergangenheit zurück. "Jeder Mensch kommt als Atheist zur Welt - ich hatte das große Glück, einer bleiben zu können", sagt er. Für ihn haben die Kirchen in Deutschland zu viel Macht, zu viele Privilegien. Korbinian Geyer hört zunächst viel zu, knetet unter dem Tisch die Hände, während Sandig über Umwege zur nächsten Frage kommt, die auf dem Zettel steht: Ob ein Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Deutschland möglich sei: "Die Glaubenstreue und die damit einhergehenden Restriktionen machen die Integration schwierig", sagt Sandig und meint damit Essensregeln oder das Kopftuch. Parallelstrukturen seien entstanden, sagt er.

Geyer: "Ich bin nicht getauft und finde Religionen furchtbar. Die Muslime, die ich kenne, gehen selten in die Moschee - sie haben diesen Glauben irgendwie von den Eltern mitbekommen. Und die kann man sehr wohl integrieren. Zu Parallelgesellschaften kommt es, wenn die Leute nur in bestimmten Vierteln zusammenwohnen und ausgegrenzt werden."

Sandig fragt, ob die sich denn auch wirklich integrieren wollten und fügt hinzu: "Was, wenn Sie jetzt mit einer muslimischen Frau zusammen wären. Glauben Sie, die Familie fände das so gut, wenn Sie vor der Ehe Sex hätten oder Alkohol trinken? Ich glaube, so kulturelle Reibungspunkte treten im Miteinander zutage."

Geyer: "Aber verschwinden die, nur weil man sich dagegen entscheidet, mit Muslimen in direkter Nachbarschaft zu leben?" Sandig: "Na ja, man muss sich schon fragen, wie das Zwischenmenschliche funktionieren kann. Ich zwinge meiner Nachbarin keine Bockwurst auf, wenn ich weiß, dass sie Vegetarierin ist. Andersrum finde ich es unhöflich, wenn ich als Mann jetzt einer Frau nicht die Hand geben würde, weil sie eben eine Frau ist."

Geyer: "Da ist auf jeden Fall was dran."

Die beiden Diskutanten sind sich meistens einig. Nach anderthalb Stunden legt Hardy Sandig den Zettel mit den Themen beiseite. Er hat jetzt selbst eine Frage, will aber vorher noch etwas klarstellen. Nämlich, dass er mit der Alternative für Deutschland (AfD) nicht zu tun habe, und nichts mit Neonazis. Aber: "So wie in Chemnitz nicht alle Nazis waren, so sind auch nicht alle in der AfD Nazis." Korbinian Geyer unterbricht sein Gegenüber zum ersten Mal. "Also Leute, die sich bei Nazis einreihen, sind auch Nazis. Da muss man einen harten Strich ziehen."

Sandig: "Mitgegangen, mitgefangen - da gehe ich mit. Allerdings gibt es ja auch bei der AfD Leute, die einen anderen Flügel vertreten."

Geyer nickt. Der Dissens währt nur kurz. Was Sandig eigentlich umtreibt, ist der Rechtsruck in Europa.

Sandig: "Ich glaube, Europa hat Angst vor den Folgen der eigenen Weltpolitik. Die Menschen haben Angst, ihre Privilegien abgeben zu müssen."

Geyer: "Die Angst hat doch jeder. Der Erfolg der rechten Parteien ist es, diese diffizilen Probleme in einfache Phrasen zu packen, einfache Antworten zu finden. Dann ist es doch das Problem der Leute, dass sie sich nicht mehr die nötigen Informationen holen, sich nicht mit den Themen auseinandersetzen und diesen Rattenfängern hinterherlaufen."

Man erinnert sich, wie heiter dieses Gespräch begonnen hatte. Sandig hatte dem Bayer Geyer den Unterschied zwischen Freiberger Eierschecke ("schmaler, schmeckt nur frisch") und Dresdner Eierschecke ("mit Quark") erklärt, einer hiesigen Spezialität. Jetzt macht sich am Tisch eine gewisse Hoffnungslosigkeit breit: "Die AfD wird zweitstärkste Kraft in Sachsen werden und bestimmte Meinungen werden salonfähig sein. Es gibt ja Leute, die sagen, Anfang der dreißiger Jahre habe es eine ähnliche Situation gegeben. Ich mache mir da schon Sorgen", sagt Sandig. Geyer sieht es ähnlich. "Jeder", sagt er, "jeder denkt, es wird schon nicht so schlimm." Am Nachbartisch bestellt sich eine der jungen Frauen einen Cappucino.

© SZ vom 25.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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