Vielleicht muss man die Sache einmal ganz kurz beim Wort nehmen. Möglicherweise ist dieser wunderliche Anglizismus ja sogar klüger als die meisten seiner Benutzer. Was wäre denn ein Shitstorm im Wortsinn? Wer stürmt denn da? Die öffentliche Meinung? Die allgemeine Überzeugung der Mehrheit? Ein relevanter gesellschaftlicher Trend? Nein, - und deswegen muss es mit der Bitte um Nachsicht auch einmal hingeschrieben werden dürfen - es stürmt, wenn man die Sache beim Wort nimmt, nichts als: Scheiße.
Soziale Netzwerke und die schnellen Kommentarfunktionen auf Online-Seiten funktionieren für immer mehr Menschen als grobe Verstärker innerer und also eigentlich privater Gefühls- und Erregungszustände. Sie verwechseln in dieser grandios-narzisstischen "Sag-ich-mal-so"-Echokammer ihre heimische Privatsphäre und ihren kleinen persönlichen Zorn mit dem großen öffentlichen Auftritt, den jeder Online-Kommentar eigentlich bedeutet. Gehirnphysiologisch gerät durch diese Verwechslung sehr viel direkt aus dem limbischen System auf die Tastatur, ohne vom Frontalhirn kontrolliert zu werden, wie es sich bei öffentlichen Auftritten eigentlich bewährt hat. Ereignisse, Bilder und Nachrichten sind in dieser enthemmten Situation dann nur die Abschussrampe für wenig faktenbasierte, wenig reflektierte, dafür hoch emotionale Schnellfeuerkommentare und Gefühls-Tweets. Man muss sich das als eine Art digitales Tourette-Syndrom vorstellen, welches die sozialen Medien jederzeit in asoziale Medien und das Internet in eine gefährliche Pöbelmaschine verwandeln kann.
Erwischt hat es jetzt also eine Bundes-kanzlerin, einen Schauspieler, einen Ka-barettisten und einen Nobelpreisträger. Angela Merkel und das weinende Mädchen war der world wide shit storm der Woche. Sogar der New Yorker hat Amy Davidson die fünf Lektionen aufschreiben lassen, die Politiker angeblich aus "Merkel and the crying girl" lernen können.
Bei Dieter Nuhr war es Griechenland und die deutsche Ironie-Schwerfälligkeit. Schon sehr viel ernster: Nobelpreisträger Sir Timothy Hunt verliert tatsächlich seinen Posten an der UCL wegen eines dummen Altherrenwitzes. ("Drei Dinge passieren, wenn Mädchen im Labor sind: Du verliebst dich in sie. Sie verlieben sich in dich. Und wenn du sie kritisierst, weinen sie").
Und dann kommt Til Schweiger ins Fernsehen, weil er ein paar Dutzend Rassisten auf seiner Facebook-Seite zugerufen hat: Verpisst euch.
Es ist nicht "das Netz". Es sind so und so viele auf Twitter oder bei Facebook
Ein paar Dutzend ausländerfeindliche Kommentare auf Til Schweigers Facebook-Seite. Was bedeutet das eigentlich?
Gar nichts.
Man hätte nicht berichten müssen. Auch Seehofer muss wegen 38 Rassisten auf einer Schauspieler-Seite seinen präventivpopulistischen Kurs nicht verschärfen. Im Gegenteil. Wir wissen auch gar nicht, ob wirklich das Land rassistischer geworden ist, oder nur die vorhandenen Rassisten lauter und unverschämter. Die oben beschriebenen Gehirnmechanismen in der Pöbelmaschine passen offenbar gut zu solchen Leuten. Die Partei mit den meisten Facebook-Likes ist jedenfalls die NPD.
Noch passieren Dinge, die vor allem seltsam sind. Es kann aber gefährlich werden, wenn die Gesellschaft sich daran gewöhnen sollte, den Shitstorm ernst zu nehmen und ihn für den Spiegel ihrer selbst zu halten. Wenn im schnellen Nachrichtengeschäft nicht nach Relevanz gefragt wird, nicht: Wer kommentiert da? Wie viele sind es? Wie lange schon? Wenn journalistische Kommentare, Nobelpreisträger-Entlassungen oder sogar politische Entscheidungen von gefühlten Stimmungen im Netz abhängig gemacht werden, landen wir in der Herrschaft des Cyber-Mobs, in der Digitatur also, die schon Aristoteles für die schlechteste aller Staatsformen hielt.
Es ist nicht "das Netz". Es sind soundsoviele tausend auf Twitter. Es sind identifizierbare Akteure. Man kann sie zählen. Wenn der sonst immer schlaue Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen jetzt sagt, die Kritik am Shitstorm sei eine Diffamierung der Netzszene, weil sich in den kollektiven Empörungsstürmen "große gesellschaftliche Fragen" zeigen, weswegen wir lernen müssen, den Shitstorm zu lesen, ihn zu dechiffrieren, dann sollte er genau das tun. Nicht pseudowissenschaftlich und cybermob-schnell eine Meinung haben, weil die große Zeitung anruft, sondern wissenschaftlich werden: qualifizieren, quantifizieren, differenzieren, bewerten, einordnen.
Man kann herausfinden, ob die Mehrheit der Pro-Putin-Kommentare von Knecht-Trollen kommt, die in einer Villa vor Königsberg sitzen und dafür bezahlt werden, dass sie Twitter und Facebook in Deutschland mit Propaganda fluten.
Qualifizieren, quantifizieren, differenzieren, bewerten, einordnen ist auch die journalistische Top-Aufgabe in einer Digitatur, wenn sie ins Zeitalter der Aufklärung bewegt werden soll. Journalisten müssen nachdenken, recherchieren, inne halten und die Relevanz bewerten, bevor sie Shitstorm-Reporter spielen . Die superschnellen Nachrichten und Kommentare, die genauso emotional bauchgesteuert und unreflektiert sind wie der Cybermob, über den sie berichten wollen, sind die eigentlichen Vertrauensuntergraber der Profession.
Und weiter? Und nächste Woche? Wie wäre es damit: Eine Journalistin oder ein Politiker denkt, ich war jetzt aber echt schon sehr lange nicht mehr im Fernsehen. Also schreibt sie was verlässlich Provozierendes oder ganz Falsches - über den aristotelischen Begriff der Digitatur zum Beispiel - und publiziert das auf Twitter. Oder - viel einfacher und verlässlicher, nur etwas teurer - er beauftragt eine Viral-Firma: Macht mir bitte mal einen mittleren Shitstorm auf meiner Facebook-Seite. Gerne was mit Rassismus oder Homophobie, meinetwegen sogar auch Frauenfeindliches, irgendetwas halt, was der aktuellen Mehrheitsmeinung widerspricht. Dann schreibe ich: "Verpisst euch von meiner Seite". Und komme so endlich auch wieder mal in die Abendnachrichten.