Nachrichten sind nichts für Feiglinge. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel zum Beispiel hat diese Haltung schon immer recht gut zu vermarkten gewusst, wozu dessen aktueller Imagefilm passt, in dem von Journalisten in Kriminalmetaphern wie "Forensiker des Geschehens" gesprochen wird. Einer sagt: "Du wirst getrieben von einer Empörung, wenn du bestimmte Dinge beobachtest, wo du meinst: Das kann einfach so nicht sein, da laufen Dinge schief, die musst du zumindest darstellen." Es folgt ein Claim, der dann beinahe schon therapeutisch anmutet: "Keine Angst vor der Wahrheit".
Was die Wahrheit ist und was die Rolle des Journalisten, darüber gibt es naturgemäß unterschiedliche Auffassungen. Für die Neurowissenschaftlerin Maren Urner vom journalistischen Start-up Perspective-daily.de zum Beispiel ist die Wahrheit, dass zu viele deutsche Medien zu viel Naming and Shaming betreiben: Probleme werden beschrieben, die Verantwortlichen benannt. Das Projekt von Urner und ihren Kollegen Han Langeslag und Bernhard Eickenberg darf man in dieser Hinsicht durchaus als Absage an das klassische journalistische Geschäft verstehen.
Mehr Dänemark in Deutschland
Die Neurowissenschaftlerin, der Psychologe und der Naturwissenschaftler aus Münster und die sechsköpfige Redaktion haben sich dem "konstruktiven Journalismus" verschrieben. Seit Anfang dieser Woche haben sie die ersten 12 000 zahlenden Mitglieder für ein erfolgreiches Crowdfunding ihres neuen Onlinemediums beisammen. Die Idee zu ihrem Start-up beruht auf folgender Diagnose: Es gebe zwar in vielen Medien Beiträge, die Themen zur Gänze analysieren und mögliche oder gar erprobte Problemlösungen aufzeigen. Man müsse sie aber suchen. Im Mittel führe das dazu, "dass die Menschen ein zu negatives Weltbild haben und sich von den Medien abwenden", sagt Urner. Ihr Gegenmittel: Von Ende Mai an werden fünf "konstruktive" Artikel pro Woche online gehen.
Einen ersten haben sie im März veröffentlicht. Darin stellt Urner etwa klar, dass die Kindersterblichkeit weltweit gesunken und die Alphabetisierungsquote gestiegen ist. Zwei Fakten, die laut dem "Unwissenheitstest" der Gapminder Foundation den meisten Befragten aus westlichen Industrieländern unbekannt sind.
Weitere Artikel sollen von Ende Mai an zum Beispiel erzählen, was man kulturgeschichtlich über Geld wissen sollte, welche Alternativen es inzwischen zur knappen Ressource Bausand gibt oder was man im Persönlichen wie im Politischen aus dem aktuellen Forschungsstand über Gewohnheiten lernen kann. Die Themenwahl von Perspective Daily soll sich dabei nicht daran orientieren, was anderswo auf Seite eins steht, sagen die Gründer, sondern daran, was ihrer Meinung dort stehen sollte.
Die Vision der drei Forscher-Journalisten, die noch bis Juli von einem Gründerstipendium aus Bundes- und EU-Geld zehren: ein bisschen mehr Dänemark in Deutschland. Dänemark, wo laut UN-Glücksreport die meisten zufriedenen Menschen leben - und wo Ulrik Haagerup 2015 sein Buch Constructive News schrieb.
Der Nachrichtenchef des Dänischen Rundfunks gibt dort zwischen Zitaten von Bill Gates und Giovanni di Lorenzo Beispiele für konstruktiven Journalismus. Stolz erzählt er etwa, wie er es in den Achtzigern als junger Redakteur der Zeitung Jyllands-Posten fast schaffte, den gordischen Knoten parteipolitischer Interessen durchzuhauen: Er habe sich 24 Stunden mit den Jugendvorsitzenden dreier Parteien eingeschlossen und sie einen Kompromiss erarbeiten lassen, der dann veröffentlicht und an die Mutterparteien geschickt worden sei. Die jungen Funktionäre hätten sich dabei deutlich flexibler gezeigt als ihre alteingesessenen Kollegen.
In seiner Heimat habe die konstruktive Berichterstattung inzwischen erste zarte Pflänzchen getrieben, schreibt Haagerup: etwa an Journalistenschulen oder in Zeitungen, deren Auflagen zuletzt stiegen, statt zu sinken.
Die Münsteraner beziehen sich wie das letzte mit ähnlich großem Hallo gestartete Medienprojekt Krautreporter ausdrücklich auf decorrespondent.nl aus den Niederlanden. Die seit zweieinhalb Jahren mit drei bis fünf Artikeln täglich bespielte Seite zählt nach eigenen Angaben 47 000 Abonnenten und zwei Millionen Seitenaufrufe pro Monat. Maren Urner sagt, die Berichterstattung des Correspondent sei mit dafür verantwortlich, dass in den Niederlanden politisch über ein bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert werde.
Prominente wie Gesine Schwan und Nora Tschirner sind jetzt schon Fans der neuen Seite
In Deutschland gibt es viele Etablierte, die die Debütanten aus Münster kritisch beäugen. In den letzten Monaten gab es Dutzende Berichte über Perspective Daily. Einwände sind etwa, solche auf das Gute spezialisierten Nachrichtenseiten brauche es gar nicht, weil viele Medien längst konstruktiv berichten. Sogar Der Spiegel hat ja die gemütsschonende Rubrik "Früher war alles schlechter" eingeführt.
Aber Perspective Daily hat auch schon Fans, sogar prominente. Auf der Website geben Professoren wie Ernst Ulrich von Weizsäcker vom Club of Rome, Politiker wie Gesine Schwan, SPD, und Medienmacher wie Franz Alt ihren Namen und ihr Gesicht für das Projekt. Die Schauspielerin Nora Tschirner warb in der ZDF-Show Schulz & Böhmermann für die Plattform.
Jetzt haben die Optimisten aus Münster gut eine halbe Million Euro gesammelt. Dass Geld allein nicht für ein erfolgreiches journalistisches Projekt reicht, haben zuletzt die Krautreporter erfahren, von denen sich manche Autoren und Leser enttäuscht abwandten, die aber in dieser Woche durch Gründung einer Genossenschaft ihre finanzielle Zukunft sichern konnten. Von Perspective Daily soll bald eine mindestens so schöne Geschichte erzählt werden.