Ukraine:"Bei mir ist Krieg"

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Albina ist 14 und wohnt in einem kleinen Ort in der Ostukraine. Hier erzählt sie von Angst und kaputten Häusern, was sie mitnimmt, wenn sie sich im Keller versteckt, und von einem kleinen Pluspunkt des Krieges.

Protokoll: Katja Garmasch

"Als der Krieg begann, wurde ich gerade eingeschult. Ich war sechs Jahre alt, ging in die erste Klasse. Damals habe ich nicht verstanden, was da passiert, wer auf wen schießt, warum überhaupt. Aber das hat am Anfang niemand. Einige dachten, das wären die Bergbauleute, die bessere Arbeitsbedingungen wollten ...

Ein ukrainischer Soldat feuert in den Himmel. Sein Ziel: eine feindliche Drohne. (Foto: AFP / ANATOLII STEPANOV)

Das mit dem Krieg klingt jetzt vielleicht komisch, denn alle reden ja im Moment darüber, ob es nun Krieg gibt oder nicht. Aber bei uns in der Region haben die Schießereien bereits vor siebeneinhalb Jahren angefangen. Auf der einen Seite: ukrainische Soldaten. Auf der anderen Seite: bewaffnete Kämpfer, die wollen, dass die Region, in der ich wohne, zu Russland und nicht mehr zur Ukraine gehört.

Angefangen hat das mit Menschen in Militäruniformen, die plötzlich bei uns in Mykolaiv auftauchten. Sie kamen nicht von hier, das war ziemlich schnell klar. Sie hatten keinerlei Abzeichen auf den Uniformen und sprachen Russisch mit fremdem Akzent. Aber woher kamen sie? Meist rauschten sie mit einem Militärlastwagen an, auf dem Anhänger eine große Kanone. Sie stellten sich vor Schulen oder Kindergärten, feuerten ein paar Schüsse in Richtung ukrainischer Truppen ab und fuhren schnell wieder weg. Natürlich haben unsere Truppen zurückgeschossen, weil sie dachte, dass da der Feind ist - und trafen die Gebäude. So ein Krieg ist immer auch chaotisch.

„Krieg ist fürchterlich“, sagt Albina, 14. „Ich würde ihn meinen schlimmsten Feinden nicht wünschen.“ (Foto: privat)

Sobald es dann wieder still wurde, kam das russische Fernsehen. Auch sie stellten sich genau vor diesen Schulen und Kindergärten und Häusern auf. Sie filmten die Schäden und berichteten, dass die Ukrainer auf ihre eigenen Häuser, ihre eigenen Landsleute schießen würden. Aber das war gelogen. Sie haben sich nur verteidigt.

Unsere Stadt Mykolaiv hat 15 000 Einwohner, drei Schulen und kein einziges Café. Geschossen wird hier zum Glück nicht mehr, aber in Marjinka, Krasnohoriwka und Popasna - wo meine Freunde leben - gibt es keinen Tag ohne Schießereien. Haben wir Angst vor Krieg? Natürlich. Bei mir ist Krieg. Ich weiß, was Krieg ist.

Ein zerstörtes Klassenzimmer in Peski nahe an der Frontlinie. Aufgenommen wurde das Bild diese Woche. Ein Hund streunt durch die Bankreihen. (Foto: AFP / ANATOLII STEPANOV)

Bei uns im Wohnzimmer standen immer fünf Stühle - einer für jedes Familienmitglied. Da hat jeder seine persönlichen Sachen darauf vorbereitet: Warme Kleidung, Hygienesachen, Ausweis, so was halt. Ich hatte immer noch eine Taschenlampe auf meinem Stuhl - im Keller war es stockfinster. Außerdem ein Tablet. Immer wenn die Explosionen nahekamen, haben wir unsere Sachen geschnappt und sind in den Keller gerannt. Wenn es ganz nah war, hat sich meine Mutter oft auf mich gelegt. Sie wollte mich mit ihrem Körper schützen. Einmal mussten wir eine ganze Woche im Keller bleiben, weil der Beschuss einfach nicht aufhörte. Eines Morgens war der Akku vom Tablet plötzlich leer. Mein Bruder hatte die ganze Nacht gespielt, und das Ladegerät war oben. Mann, war ich sauer.

Wir wohnen in einem Einfamilienhaus, aber neben uns stehen große Wohnhäuser. Bei einem Bombardement ist ein Wohnhaus mit fünf Stockwerken direkt neben unserem getroffen worden. Ich hörte mit einem Schlag nichts mehr, und mir wurde schwarz vor Augen. Danach hat man mir erklärt, dass das die Druckwelle war. Später ging ich an diesen Ruinen vorbei zur Schule - überall Ziegel, Schutt und Staub. Ich sah die kaputten Wände und dachte an die toten Menschen darunter. Das hat sich schlimm angefühlt, als ob jemand alles Positive aus meinem bisherigen Leben ausgesaugt hätte.

Ich habe Angst, weil Russland seit Wochen Truppen an die Grenze zur Ukraine bringt. Ist jetzt unser ganzes Land in Gefahr? Wir werden unsere Region verteidigen! Natürlich wissen wir, dass wir die Ukraine nicht alleine schützen können. Wir hoffen auf Hilfe von Europa und Amerika, der Nato. Ich denke, der eigentliche Konflikt ist zwischen Russland und Europa, nicht mit uns. Russland hat Angst, Einfluss zu verlieren. Angst, dass wir uns Europa zuwenden. Aber kann man so was mit Soldaten verändern? Krieg ist eben chaotisch.

Das Blau in der ukrainischen Flagge steht für leuchtenden Himmel, das Gelb für reife Kornfelder. Der Alltag dort sieht leider anders aus. (Foto: AFP / YURIY DYACHYSHYN)

Zum Beispiel in Trojizke, einer Kleinstadt an der Grenze zur Donezker und Luhansker Republik. Dort leben viele Soldaten, die für die andere Seite kämpfen. Sie schießen auf Fahrzeuge, die rein- oder rausfahren. Der Bus, der die Kinder da zur Schule bringt, wird nur aus einem einzigen Grund nicht beschossen: Weil da auch die Kinder von den Soldaten mit drinsitzen könnten.

Krieg ist fürchterlich. Ich würde ihn meinen schlimmsten Feinden nicht wünschen. Aber einen kleinen Pluspunkt hat er: Die Menschen hier sind seitdem zusammengerückt. Sie verstehen jetzt, dass wir einander brauchen."

© SZ vom 29.01.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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