Stiefel-Klassiker:Ein Luftschuh auf Wanderschaft

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Berühmt und leider auch berüchtigt: Der "Doc Martens" feiert sechzigsten Geburtstag. Nur wenige wissen, dass der Hauptstiefel der Subkultur in Bayern erfunden wurde.

Birgit Weidinger

"Doc Martens sind die neuen Uggs!", verkündete der Londoner Evening Standard zu Beginn der Wintersaison 2006/2007. Außerdem, so befand das Blatt weiter, sind sie vielseitig und passen genauso gut zu blickdichten Strumpfhosen wie zu Jeans.

Ein Klassiker wird 60: "Doc Martens"-Schuhe mit Blümchenmustern. (Foto: Foto: Laif)

Das kann man zwar von Uggs, ein Ungetüm von einem Pelzstiefel aus der Schuhwüste Australiens, mit denen Frauen wie Enten gehen, nicht gerade behaupten. Doch das tut ihrer Beliebtheit keinen Abbruch.

Doc Martens warten, bis der Trend mal wieder vorbeikommt

Uggs hin, Uggs her: Beliebt waren Doc Martens Boots immer wieder. Auch wenn es in Sachen Trend ständig auf und ab geht, wie Martin Roach befindet, der die Geschichte der Stiefel liebevoll und detailliert aufgeschrieben hat. Man könnte sagen: Die Stiefel warten halt, bis der Trend mal wieder vorbeikommt.

Ursprünglich hieß diese urenglische Marke tatsächlich "Doktor Märtens Luftpolsterschuhe" - ihre deutschen Erfinder hatten die Idee, ein bequemes, gleichzeitig aber robustes und unverwüstliches Schuhwerk herzustellen.

Die Geburtsstunde: Skiunfall im Fronturlaub

Die Entstehungsgeschichte ist typisch für die Nachkriegszeit, als man mit neuem Elan und altem Material ans Werk ging: Klaus Märtens hieß der junge Arzt, der sich während eines Fronturlaubs 1945 beim Skifahren den Fuß verletzte und während der Heilung möglichst bequem und mit wenig Schmerzen wieder auf die Beine kommen wollte.

Er erholte sich in seinem Geburtsort Seeshaupt am Starnberger See bei München, suchte und fand einen Schmerzkiller, indem er aus Restbeständen des Heeres - Uniformstoffen und Gummireifen - eine zum weichen Auftreten geeignete Sohle anfertigte. Freudig humpelte er fortan seiner Gesundung und seinem Freund Dr. Herbert Funck entgegen, der sich ebenfalls Gedanken über die Herstellung solcher Sohlen machte: versehen mit Luftkammern, die wie Stoßdämpfer wirken.

Sechzig Jahre ist das jetzt her: 1947 begannen die beiden mit ihrer Schuh-Produktion in Seeshaupt, eröffneten bald eine Fabrik in München. Während der fünfziger Jahre florierte das Geschäft, ihr Angebot an Modellen erweiterte sich, sie inserierten ihre Luftpolsterschuhe auch bald in ausländischen Fachblättern.

1959 verkauften Märtens und Funck die Produktionslizenz für ihre Luftpolsterschuhe an die englische Firma Griggs in Wolverhampton. Die Brüder Griggs verpassten dem Look ein paar Änderungen, gaben ihm den Markennamen AirWair und den Slogan "with bouncing soles" (etwa: auf wippenden Sohlen) - und produzierten das erste luftige AirWair-Exemplar am 1. April 1960, in Kirschrot, mit acht Ösen. Das Modell nannten sie, entsprechend dem Erstproduktionsdatum: 1460.

Favoriten der englischen Arbeiterklasse

Das "ä" im deutschen Namen wurde englisch zum a: Dr. Märtens Luftpolsterschuh wurde als Dr. Martens oder DM oder Doc zunächst zum Favoriten von Englands Arbeiterklasse. Seine berühmte gelbe Steppnaht, seine Rillensohle und Signatur machten ihn in England zum Klassiker, der vom Polizisten über den Postbeamten bis zur Hausfrau getragen wurde: alle schätzten die bequeme Sohle beim Arbeiten.

Die erste öffentliche Person in England, die Docs trug, war das Parlamentsmitglied Tony Benn. Der Sozialist Benn, ein geborener Viscount, trat auch bei Protestmärschen und Kundgebungen im 1460-Modell auf.

Während der Siebziger wurden die Stiefel zu einem Kultgegenstand der Jugendszene, die von beiden Geschlechtern auch deshalb gerne getragen wurden, um ihre Verbindung zu den Wurzeln der Arbeiterschaft zur Schau zu stellen.

Fußball-Hooligans und Skinheads trugen sie, es folgten sämtliche Teenager-Kulturen - Mod und Punks, vom Ska bis zu den Sex Pistols. In der Wave- und Dark-Wave-Bewegung waren vor allem die 8-Loch-und 10-Loch-Modelle gefragt.

Die Skinheads trugen die Docs bei Protestmärschen, aggressiven Extremisten dienten die Stahlkappen der Stiefel, die manchmal noch zusätzlich Stacheln trugen, als Waffe: "Es ist, als ob das Rasieren des Kopfes und das Tragen von Dr. Martens dich in eine gefährliche außerirdische Existenz verwandelt", so beschrieb es ein Skin.

Johannes Paul II. bestellte mehr als hundert Paare

Der Rechtsruck der Skinheadszene verschaffte dem Schuh dann Umsätze, auf die die Firma gerne verzichtet hätte, zerstörte sie doch das Labour-Image des ehrlichen Arbeiterschuhs.

Gleichwohl halfen viele VIPs dem Doc aus der - sorry: Talsohle. Stilikone Madonna trat mit Docs auf, Papst Johannes Paul II. soll drei Paar feste Halbschuhe bestellt haben, nach Maß und in Weiß. Eine weitere Bestellung mit mehr als hundert Paaren für Vatikanbedienstete folgte. Robbie Williams, Naomi Campbell und andere Stars folgten dem Heiligen Vater.

Erst in den neunziger Jahren ging's auf dem britischen Markt mit den Docs bergab. Die Stiefel verloren an Appeal, Bands wie Oasis und Blur zeigten sich eher in den lässigeren Desert Boots von Clarks, im Übrigen übernahmen die Sneakers die Weltherrschaft.

Die Produktion des Doc Martens machte Verluste, sie wurde nach Japan, Thailand und China verlegt. Alle britischen Fabriken waren 2003 geschlossen. Auch die deutsche Gründerfirma hat seit 2003 Hausverkauf und Versandhandel in Seeshaupt eingestellt.

Mittlerweile hat sich, so scheint es, die Verlagerung der Produktion ins Ausland als clever erwiesen. Der englische Doc erholt sich und findet nun über Fachgeschäfte, Internetkataloge, Versandhandel und Ebay zu den Kunden. Die Palette des Angebots hat sich sogar auf Sandalen erweitert.

Die traditionsreiche Berliner Anlauf- und Versandstelle für sonderbare Outfits "Blue Moon", seit 1978 im Geschäft, ist heute in ihrem Hauptladen in der Charlottenburger Uhlandstraße und in ihrer Filiale Danziger Straße am Prenzlauer Berg weiterhin für Skins, Skas, Gothics und Punks zuständig.

Der Verkauf von Doc Martens, den "Blue Moon" früher über die ganze Bundesrepublik betrieben haben, ist neben Restbeständen von Docs auf andere Marken übergegangen (Tread Air und George Cox).

In München hat "Face" am Altheimer Eck Underground-Mode parat, dazu gehören auch Halbschuhe und Stiefel von Doc Martens. Die Klassiker gehen am besten, sagt man dort. In London pilgern die Fans weiterhin zur British Boot Company in Camden Town, die Kultstatus hat, weil sie in den Sechzigern als Erste in London die Stiefel verkaufte.

Viel Lob - viel Ablehnung

Kaum ein anderer Schuh ist in so vielen Varianten aufgetreten, hat so viel Lob und so viel Ablehnung hervorgerufen, ist so vereinnahmt und als Signal oder Symbol benutzt worden. Die Artenvielfalt der Docs zeigt sich in vielen Modellen: Es gibt ihn als Halbschuh, als knielangen 14-Locher, als Sandale, als Ballerina, als Damenschuh, als Budapester mit typischem Lochmuster. Man sieht ihn mit Blümchen, mit dem Union-Jack, mit balinesischen Motiven.

Designer mochten ihn feminin und kokett. Und die Modeschöpferin Vivienne Westwood, selbst schon Legende, meinte: "Docs geben dem weiblichen Bein einen Touch von Glamour."

Die Modeschöpfer hatten ihren Spaß daran, ihre Doc-Modelle zu entwerfen: Schneestiefel in Schaffell gewickelt, High Heels, 14-Locher, glänzend in schwarzem Lack, mit Mustern dekoriert, mit Gold verziert, in Lila, in Weiß, mit Spitzen besetzt, mit Rosen geschmückt, mit Netz umwickelt, mit Chiffon und Bändern garniert . . .

Die US-Modeexpertin Wanda Leibowitz hat hingegen etwas gegen die Schuhe. Sie listete unlängst in einem Verbraucher-Journal unter dem Titel "Zehn Gründe, warum Sie keine Doc Martens kaufen sollten" ihre Kritik auf. Zum Beispiel: "Diese Stiefel dauern ewig, das muss nicht sein. Kaufen Sie andere!" Außerdem: "Es gibt keine halben Größen, sie sind nicht billig und sehr schwer, sie werden in Ländern hergestellt, in denen Menschenrechte nichts gelten."

Eine der seltsamsten Modeerscheinungen aller Zeiten

Die eine kritisiert, der andere begeistert sich: Der Autor, Komiker und Schauspieler Alexei Sayle hat den Boots einen schwärmerischen Song gewidmet: "It's not class or ideology, color, creed, or roots/the only thing that unites us/Is Dr. Marten's boots."

Der Autor und Boots-Fan Martin Roach betont den Ewigkeitswert der Stiefel: "Docs sind eine der seltsamsten Modeerscheinungen aller Zeiten. Unsere Eltern haben sich immer über sie geärgert. Sie bleiben einzigartig auf dem Markt. Wie die Subkultur, die sie schufen, sind sie vergammelt und smart, sexy und macho, modisch und zeitlos, klassisch und klassenlos, einförmig und einmalig. Wahrscheinlich werden sie existieren, solange die Menschen Füße haben."

Diese Prognose hätte der junge Doktor aus Seeshaupt, der 1947 schmerzfreier zu Fuß sein wollte, wohl nicht gewagt. Auch hätte er sich kaum vorstellen können, dass bei der jüngsten Fashionshow in Paris im Februar Yohji Yamamotos Models in neuen heißen Doc-Boots antreten würden, Ergebnis der jüngsten Kooperation des findigen Designers mit den legendären Schuhproduzenten.

© SZ am Wochenende vom 10.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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