Schmink-Kultur:Das Auge küsst mit

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Vor langer Zeit fing an, was bis heute nicht mehr aufhört: die Erfolgsgeschichte des Lippenstifts.

Miriam Stein

Jede Frau kennt das Gefühl nach einem schlanken Zylinder zu greifen, den Deckel abzuschrauben, den roten, weich-wachsigen Farbstift herauszudrehen und damit schließlich die Lippen nachzumalen. Kaum gefärbt, tritt der Mund plötzlich leuchtend aus seiner beiläufigen Existenz und schenkt dem weiblichen Gesicht eine neue Kontur. Was für ein Ritual, kurz, einfach und doch so ergiebig. Das Glück darüber, sich selbst für einen Augenblick schöner zu fühlen, wiegt oft schwerer als das Wissen um die Vergänglichkeit oder auch Künstlichkeit der Maske. Dabei blickt das Ritual des Schminkens, die öffentliche Zurschaustellung der Sinnlichkeit des weiblichen Mundes, auf eine bemerkswert wechselhafte Geschichte zurück.

Seit 5000 Jahren Lockstoff für potentielle Abenteuer. Einst war der Lippenstift Königinnen und Prostituierten vorbehalten. (Foto: Foto: iStockphoto)

Bei Ausgrabungen in der sumerischen Stadt Ur fand sich gefärbte Lippensalbe aus dem Jahr 3500 vor Christus. Die Damen, sowie die Herren Krieger der Antike, färbten sich gern die Lippen als Zeichen von Fruchtbarkeit, Gesundheit und Stärke. Frühe Schönheiten wie Nofretete und Cleopatra wurden mit rotrost gefärbten Lippen abgebildet. Man sagt, die schönen Aristokratinnen verboten ihren weiblichen Untertanen, ähnlich tiefes Rot auf ihre weniger blaublütigen Lippen aufzutragen. Scharlachrot und sattes Purpur waren denen vorbehalten, die laut Blutrecht ihre Lippen in der Farbe des Lebenssafts einfärben durften. Asiatische Hochkulturen schätzen gefärbte Lippen zur Abgrenzung vom reispflückenden Bauernvolk.

Somit war es auch im Fernen Osten den Vertretern der finanzkräftigeren Schichten vorbehalten, ihr Äußeres durch Hilfsmittel zu überarbeiten. Ob die antiken Griechen hingegen Lippenrot verschmähten, weil Ratio an erster Stelle der hellenistischen Gesellschaftideale stand, bleibt zweifelhaft. Überliefert ist, dass es sich für die Damenwelt wenig schickte, Schminke zu benutzen, es sei denn, Frau verdingte sich als Hetäre. Hetären war es nicht nur gestattet, sich die Lippen rot zu färben, sie durften sich auch in Geisteswissenschaft üben. Ähnlich ihren ebenfalls sehr geschminkten japanischen Schwestern, den Geishas, durften Hetären studieren: Philosophie, Kunst, Politik, Literatur und Liebeskunst.

Im weiteren Lauf der Kulturgeschichte tauchen tiefrote Lippen zunächst stets an schönen Königinnen und Prostituierten auf. Erst seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts ist Lippenrot durchgängig salonfähig. Im Früh- und Hochmittelalter fühlten sich Kirchenväter von geschminkten Lippen beleidigt und untersagten anständigen Christinnen künstliche Lippenfarbe.

Elizabeth I., Königin von England, interessierte sich für deren Urteil wenig. Sie färbte sich regelmäßig die Lippen und prägte damit ein populäres Schönheits-ideal mitsamt roten Lippen. Auch soll die gestrenge Jungfraukönigin diejenige gewesen sein, die den gefärbten Balsam erstmals in Stiftform hat pressen lassen, um auch unterwegs stets ihre Lippen nachziehen zu können.

Katharina die Große schätzte pralle, rote Lippen - allerdings weniger durch ein kosmetisches Produkt, sondern als Naturereignis: Die Zarin soll ihre Hofdamen regelmäßig aufgefordert haben, ihre Lippen anzusaugen, um diese gut durchblutet und vollmundig erscheinen zu lassen. Der Adel der Renaissance hat tief in die Puderdose gegriffen - Frauen wie Männer benutzten künstliche Hilfmittel, um aristokratisch blass mit leuchtend roten Lippen in der Oper zu glänzen. Doch auch diese Mode war nicht von Dauer. Sittenverfall fürchtend, verkündete Queen Victoria Make-Up als unanständig und vulgär für alle Frauen, die nicht auf der Bühne oder im Bordell auftraten.

Der erste kommerzielle Lippenstift der Neuzeit

1883 stellte die Pariser Parfümerie mit dem klangvollen Namen "Stylo d'Amour" auf der Amsterdamer Weltausstellung ein in Papier gewickeltes Produkt namens "saucisse" mit Unterstützung der Schauspieldiva Sarah Bernhardt vor. Das "Würstchen" war der erste, komerzielle Lippenstift der Neuzeit und mit fast 50 Euro Ladenpreis weitestgenend unerschwinglich.

Die langsam ihren Siegeszug antretende junge Filmindustrie machte den Lippenstift immer populärer, doch erst der freizügige Dress-Code der "Flapper-Girls", jener Mädchen, die mit Bubi-Kopf und korsettfreien Kleidern in den 1920ern auftraten, starken Alkohol tranken und Kette rauchten, brachte Schminke aus verruchten Hinterzimmern und Kellerbars in die Kaufhäuser. Was an Swing- tanzenden "Flappers" in den Augen vieler noch provokativ aussah, wurde in modifizierter Form gesellschaftsfähig. In den 40er Jahren gab der Farbfilm dem Lippenstift den letzen Kick in Richtung Massenprodukt. Tausende Frauen eiferten dem Look der Leinwandgöttinnen nach.

Die Verwandtschaft der Kosmetikbranche zu Hollywood ist demnach älter als das millionenschwere Sätzchen "weil ich es mir wert bin", das dutzende Stars und Starlets im Namen des Kosmetik-Giganten "L'Oreal" für weltweite Werbespots in die Kamera hauchen. Von Scheinwerfern umschmeichelt, vor Objektiven in Szene gesetzt, wurden die ersten Diven der Filmwelt unter anderem durch professionelles Make-Up zu den ebenmäßigen Kunstwerken, die fortan das Schönheitsideal der Frau von nebenan prägen sollten. Plötzlich kauften Frauen Schminke und gebrauchten die englische Phrase "to put a face on" - sich ein Gesicht auflegen - wenn sie sich zurecht machten, Make-up anwendeten, falsche Wimpern aufklebten und Lippenstift benutzten.

Und so wurde der einerseits ewig anrüchige, unerschwingliche, aristokratische Lippenstift zum gängigen Teil des schließlich biederen Schönheitsideals der stets perfekt zurechtgemachten Frau, Gattin und Mutter, die selbst im Angesicht von Hausarbeit und Kinderpflege immer wie ein Filmstar aussah. Anrüchig waren vielleicht die verschmierten, Münder frisch geküsster Liebespaare, doch darüber hinaus konnte mit Feuerrot kein Sittenverfall mehr symbolisiert werden - im Gegenteil. Je exklusiver der Hersteller des Artikels - bevorzugt wurden französische Luxusmarken wie Chanel und Dior - desto aufregender und begehrenswerter darf Frau sich fühlen.

Erotik für die Handtasche

Ob die luxus-liebende, feminine Käuferin ein Produkt namens paraffinfreies Ozokerit, Ceresin weiß, Vaseline weiß, Bienenwachs, Cetylalkohol, Walrat, Stearin, Absorptionsgrundlage, Glycerinmonostearat, Sorbitan-Emulgator, Lanolin, Paraffinöl, Ricinusöl, Eutanol-Konzentrat plus etwa 30 Prozent Farbzusatzstoff mit der gleichen Lust begehren würde, ist fraglich. Verpackt, belabelt und beworben hingegen, wird die chemische Verbindung zum Katalysator chemischer Reaktionen: Erotik für die Handtasche, Schmeichler weiblicher Selbstbestimmung, Lockstoff für potentielle Abenteuer, Träger von Eleganz, Geschmack und gutem Aussehen.

Jugendbewegungen mussten zur Veränderungen von Schönheitsidealen und daraus entstandenen Frauenbildern zum Make-up greifen und es zweck-entfremden. Vom Glamrock bis zum Punk bedienten sich Subkulturen an Lippenstiften, Eyelinern und Nagellacken, um kommerziellen Mode- und Schönheitstrends entgegenzuwirken. An Männern funktionierte der Schockeffekt kurzfristig ebenso gut wie Produkte in abwegigen Farben.

Die postfeministischen Einflüsse der 80er und 90er Jahre, die Öffnung neuen Raums durch die Erschließung des Internets, bereitete in den frühen 90er Jahren den Weg für einen neuen, androgyneren Look. Schwarz, Blau und Violetttöne, beeinflusst von Punk-, Riot Grrl-, Grunge- und New Romantic-Kulturen behaupteten sich durch kleine, unabhängige Labels im Markt. "Trailor Park", "Smog", "Strip" und "Roach" lösten das brave Popper-Pink oder Power-Dressing-Rot der späten 80er Jahre ab. Die Idee, Lippenstifte eigens für eine jüngere, moderne Zielgruppe zu produzieren, war von beispiellosem Erfolg: Marken mit Namen "Urban Decay" und "Hard Candy" machten ihre jungen Chefinnen innerhalb weniger Jahre zu Millionärinnen.

Der Kosmetikmarkt boomt

L'Oréal, weltweit größter Hersteller von Kosmetikprodukten, verzeichnet seit nunmehr 20 Jahren konstant steigende Umsätze. Der Kosmetikmarkt boomt, unbeeindruckt von Krisen, Kriegen und Terroranschlägen. Im Gegenteil: 2003 unterstützte die Make-up Marke M.Ä.C., Teil des hoch-profiligen Konzern-Konglomerats Estée Lauder, das "Body&Soul" Programm in Kabul. Die Marke, die mit Gesichtern wie Chloe Savigny, Debbie Harry, Cathérine Deneuve und links-liberalen Posen kokettiert, spendierte innerhalb des Programms Lehrvideos und Proben, um Frauen in Afghanistan den Umgang mit Make-up nahezubringen und einen weiteren Markt zu erschließen. Seine aktuelle Frühjahr-Sommer Palette widmet M.Ä.C. allerdings der Ikone der braven, immer lächelnden, perfekten Schönheit: Barbie.

In der aktuellen Frühjahrkollektion legt das Haus Dior mit "Diorflight", einer Farbpalette aus Lippen-, Augen- und Wangenfarbe für unterwegs, ein neues, zeitgemäßes Produkt in der Werbung um die Gunst der luxusverwöhnten Käuferin vor. Lippenstift, Lidschatten und Rouge in rosé, anthrazit-metallic und orange, aufwendig in ein mit weißem Leder bezogenes Etui verpackt. Auf der Stirnseite prangt das übergroße Logo "D", passend zum Handtaschen-design Diors. "Diorflight" garantiert Luxusgefühle für die Trägerin und den Neid der Sitznachbarin in der Business-Class. Über den Wolken gut aussehen, überregionales Trendbewusstsein zwischen Berlin, London, New York, Los Angeles und Tokio zu entwickeln, steht der jungen Jetsetterin gut, schließlich gibt es in jedem Luxus-Kaufhaus der Welt einen Dior-Counter, um Nachschub zu besorgen. Ein Bändchen am "D" des "Diorflight"- Etuis spricht in Zeiten erhöhter Flugsicherheit und Flüssigsprengstoffs eine deutliche Sprache: Remove Before Flight.

Der Umgang mit Make-up, die Reputation der geschminkten Frau, spiegelt seit nunmehr 5000 Jahren ein Gesellschaftsbild von Schönheit wider, von antiken Königinnen über Konkubinen, Diven, bis zur heutigen üppigen Produktpalette. Immer noch bleibt das Ritual des Lippenschminkens, der Blick in den Handspiegel, die Konzentration auf die eigenen Lippen, ein sinnlicher-intimer Moment einer Frau mit ihrer eigenen Weiblichkeit. Dieser Tage präsentieren die Riesen der Industrie eine unerschöpfliche Reihe von Schönheitsvariationen. Dabei spielt weder Farbennuance noch Fabrikat die Hauptrolle, sondern das Ritual selbst.

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