Psychische Krankheiten:Die unerträgliche Last des Seins

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Gesetze für Behinderte wurden in den vergangenen Jahren etliche verabschiedet. Doch psychisch Kranke werden noch immer nicht als Behinderte anerkannt.

Heidrun Graupner

Das Arbeitsamt ist für den Kranken unendlich weit entfernt an diesem Tag, der nur unerträgliche Last bedeutet. "Es liegt ,jenseits der Alpen", und es muss erreicht werden, heute, morgen kann es zu spät sein. Ist es wirklich zu spät, morgen? Vielleicht ist ja morgen ein besserer Tag." Vielleicht schafft der depressive Patient unter Einsatz aller Kräfte in den nächsten Tagen den Weg zur Arbeitsagentur.

(Foto: Foto: dpa)

Vielleicht trifft er dort auf einen Mitarbeiter, der seinen Antrag nicht ablehnt, obwohl die fristgerechte Mitwirkungspflicht versäumt wurde.

Gottfried Wörishofer von der Vereinigung "Psychiatrie Erfahrene" erzählte auf einer Münchner Tagung am vergangenen Freitag solche Fälle, eindringliche Beispiele für die Barrieren, die seelisch Kranke umgeben und die von der Behindertenpolitik ignoriert werden.

"Behinderungen psychisch Kranker durch das Behinderten-Gleichstellungsgesetz" lautete der provokante Titel der Tagung der Münchner Psychiatrie Initiative, die ein Zusammenschluss von Betroffenen, Angehörigen und Ärzten ist.

Gesetze für Behinderte wurden in den vergangenen Jahren in schneller Folge verabschiedet, 2001 das Sozialgesetzbuch IX, 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz, 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, fast alle Bundesländer haben zudem eigene Gesetze.

Dem Lob der Politik über diese Aktivität widersprach der niedersächsische Psychiater Wolfgang Weig - entstanden sei "eine verwirrende Vielfalt von Zuständigkeiten".

Für Körperbehinderte wurden in den Gleichstellungsgesetzen detaillierte Zielvereinbarungen je nach Art der Behinderung festgelegt, die Absenkung von Bordsteinkanten zum Beispiel, behindertengerechte Züge oder Gebärdensprache und Blindenschrift als offizielle Kommunikationsmittel.

Seelische, aber auch geistige Behinderungen werden in den Gesetzen nicht erläutert, die Barrieren nicht beschrieben. Den besonderen Belangen psychisch Kranker sei Rechnung zu tragen, heißt es kurz im Sozialgesetzbuch IX.

Man sieht ihre Behinderung nicht

Diese Menschen würden nicht wahrgenommen, weil man ihnen ihre Behinderung nicht ansehe, "sie fallen nicht auf, sie werden allenfalls auffällig", sagte Kristian Gross von der Münchner Aktionsgemeinschaft der Angehörigen. Die Ärzte, die Behinderten und ihre Angehörigen fordern die Novellierung der Gesetze. Notwendig seien Sonderregelungen, um die Benachteiligungen abzubauen:

Viele Behinderte versäumen wegen ihrer Krankheit Fristen bei Verträgen, Versicherungen oder Ämtern und geraten in schwere Existenzkrisen; sie müssten die Möglichkeit haben, Fristen aufzuschieben.

Studenten oder Lehrlinge bräuchten flexiblere Rahmenbedingungen und Zeiten für Ausbildung sowie Prüfungen, nicht ihre Intelligenz, wohl aber Durchhaltefähigkeit und Reaktionsvermögen sind herabgesetzt. Für oft hochqualifizierte Behinderte fehlten Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt, "Nischen", in denen nicht die volle Arbeitsleistung verlangt wird.

Behördengänge sind für psychisch Behinderte wegen ihrer Angst vor Menschen unerträglich; notwendig seien daher separate Beratungsräume, Hausbesuche und speziell geschulte Mitarbeiter; ein zugewandtes, wissendes Gegenüber sei für psychisch Behinderte so wichtig wie die Gebärdensprache für Gehörlose, hieß es. Ein Problem ist auch der Behindertenausweis, den viele seelisch Kranke ablehnen, aus Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren und stigmatisiert zu werden.

"Der Gesetzgeber will helfen, aber er ist nicht fähig, weil ihm die Vorstellung für die Situation der psychisch Kranken fehlt", sagte Kristian Gross. Die Vertreter der Sozialministerien des Bundes und Bayerns, Andreas Schlüter und Burkard Rappl, gaben das zu.

In dieser Deutlichkeit, sagten sie, seien sie noch nie über psychisch Behinderte informiert worden. Ob diese Lehrstunde Folgen haben wird, ist jedoch fraglich. Den Katalog an Forderungen wies Schlüter zurück: "Sie sollten deutlicher herausarbeiten, was Sie in den Gesetzen vermissen."

© SZ vom 1.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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