Mode-Fotografie:Der gefangene Blick

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Gute Modefotografie entsteht aus Poesie und Schönheit: Ein Besuch bei Giovanni Gastel in Mailand, der beides in seinen atemberaubenden Aufnahmen vereint.

Sabine Streitel

Ohne die Donna hätte er heute vielleicht nur ein bescheidenes Porträtstudio in Mailand, in dem er Familien, Paare und junge Arbeitssuchende für Bewerbungen ablichten würde. Stattdessen residiert Giovanni Gastel in einem dreistöckigen Studio, ein ganzes Haus im Zentrum von Mailand. Selbst seine 15 Assistentinnen können sich darin kaum in die Quere kommen.

Ja, es sind 15! Giovanni war gerade 27 geworden, als er sich bei der Donna vorstellte - und hatte außer ein paar älteren Damen, alle Freundinnen der Mutter, bis zu dem Zeitpunkt nur Auktionsware bei Christie's abgelichtet, Schuhe für die italienische Firma Mipel geknipst und ein paar Hochzeitsschüsse gemacht. Jobs, die ihm die Mutter dank ihrer blendenden Kontakte verschafft hatte.

Es waren die satten achtziger Jahre und damit die beste Zeit für Modemagazine wie Donna. Größer, dicker und sehr viel aufwendiger produziert als alle anderen, war das Hochglanzmagazin stilbildend weit über die Modegrenzen Italiens hinaus. Weltweit investierten Teenager und Fashionistas die 10000 Lire, um darin schönste, kunstvollste Modestrecken bewundern zu können - und so viel wie möglich über Haute Couture zu lernen.

Kein Grund für den jungen Giovanni, sich nicht bei der Stilbibel als Fotograf zu bewerben. Unbedarft und unerschrocken betrat er das mondäne Büro Flavio Lucchinis, der damals Art-Director der Donna und der italienischen Vogue war. "Ich zeigte ihm meine Fotomappe und er sagte, das seien wirklich schreckliche Bilder", erzählt Gastel. "Also wollte ich gehen, doch Lucchini hielt mich zurück. Er sagte, ich solle bleiben, mein Gesicht gefiele ihm."

Giovanni blieb, und schon am nächsten Tag fing er mit kleinen Produktionen an, bis sie ihm bald die großen Modestrecken übertrugen, für die damals sonst nur die großen Fotografen eingeflogen wurden. Aus dieser Zusammenarbeit wurde später eine Art Symbiose, die darin gipfelte, dass Gastel in einem Atemzug mit der Donna und Flavio Lucchini genannt wurde - Gastels Karriere begann. Über viele Jahre prägte er Erscheinungsbild und Bildsprache des Heftes mit seinen kunstvollen Stills und Modeaufnahmen.

Eine Entwicklung, die Gastels Vater missfiel. Giovanni Gastel entstammt mütterlicherseits dem berühmten Adels-Geschlecht der Visconti, das besonders im Mittelalter in Mailand beherrschend war. Gastel aber wollte von Geld und dem damit verbundenen Finanzwesen nichts wissen. Er fühlt sich mehr der Lebensweise seines Onkels verbunden, des legendären Film- und Theaterregisseurs Luchino Visconti. "Mein Onkel war für mich immer ein leuchtendes Beispiel", erzählt Gastel, "eine große Persönlichkeit, ein sehr seriöser und professioneller Mann, der mitunter bis zu drei Jahre an einem einzigen Projekt arbeitete." Eine gute Schule für den jungen Kunstbesessenen Giovanni. Mit zehn Jahren begann er, Gedichte zu verfassen und Theater zu spielen, die schönen Künste spielten natürlich im Hause Visconti eine bedeutende Rolle.

Man ahnt diese Herkunft, auch wenn Gastel statt des typischen Aristo-Looks - steifer Blazer, Einstecktuch, Bügelfalte und Halstuch - heute braun gebrannt und casual in heller Bundfaltenhose, Hemd und legerem Leinenblazer zum offiziellen Termin erscheint: einer sommerlichen Ausstellungseröffnung in Mailand, die seine Arbeiten für eine bayerische Automarke zusammenfasst. Die kaum ergrauten Haare etwas länger als ein Nichtitaliener, schlendert er durch die Menge Modeinteressierter, die so scheint es, vor allem gekommen sind, um Gastels angenehme Gesellschaft zu genießen.

Gastel sonnt sich nicht im Glanz der Promis

Obwohl kein Partymensch, schüttelt der 52-jährige Mailänder entspannt alle Hände, grüßt und erteilt freundlich Auskunft über die schreiend bunten Stillleben, die in Bahnen entlang eines Laufstegs aufgehängt baumelten oder wie zufällig verstreut, überall auf dem Boden liegen. Helme, Handschuhe und Motorradjacken in Nahaufnahme, das alles schrill in Pink, Grün und Blau - und trotzdem unverkennbar in seinem Stil gehalten, der immer etwas Graziles, fast Zerbrechliches, Aristokratisches hat. Und man versteht sofort, weshalb er es war, der den Auftrag erhielt, mit Hilfe seiner Kamera aus ganz normaler Funktionskleidung Mode zu machen und so subtil in Kunst zu verwandeln.

Es ist nur scheinbar ein Widerspruch, dass ein Mann wie Gastel, der eigentlich nicht gerne verreist, menschenscheu ist und mit der Welt, wie er sie vor seinem Studio täglich vorfindet, prinzipiell nicht zurechtkommt, Fotograf ist. Sein Revier beginnt in Mailand und endet in Paris, seinem Zweitwohnsitz, den er mit seinen erwachsenen Söhnen und seiner Frau teilt. Alles, was er braucht, findet er hier. Inspiration, Frieden, Schönheit. Vielleicht ist diese selbst verordnete Abgeschiedenheit der Grund, weshalb zwar seine Arbeiten international bekannt sind, nicht aber Gastel selbst.

In Italien ist er zwar ein Star, darüber hinaus kennt ihn fast nur die Modeszene; auch seine vielen Ausstellungen finden immer nur in Mailand statt. Dass Gastel selbst keine Berühmtheit ist, mag auch daran liegen, dass er keine Berühmtheiten porträtiert, wie viele andere Fotografen. Sich im Glanz der Prominenz zu sonnen, wie etwa Mario Testino und Peter Lindbergh es tun, interessiert ihn nicht. Er kennt den Hunger nach Aufmerksamkeit nicht, will ihn auch nicht befriedigen.

Stilllife, das sei einfach mehr er, so Gastel. Eine Fotografie, die pur und auch einsam ist, und so zu seinem Bedürfnis nach Ruhe passt. Für Modeshootings brauche man zum Beispiel immer eine Gruppe an Mitarbeitern, die Styling, Make-up und die Haare des Models machen, man muss reden, sich erklären. In seiner Fotografie soll Poesie überwiegen, die er durch strenge Zurücknahme inszeniert, wie er sie von seinen großen Vorbildern Ingres und dem amerikanischen Fotografen Irving Penn lernte. Irgendwo zwischen den beiden steht auch Gastel selbst: Ingres, diesem bedeutenden Vertreter der offiziellen französischen Kunst des 19. Jahrhunderts, dessen Werke durch die Hervorhebung des Graphischen etwas Trockenes und Kühles innehatten, und Penn, dem größten Stilllife-Fotografen des 20.Jahrhunderts. Gastel lernte von ihnen zu reduzieren, wegzunehmen, das Bild zu entleeren und zu erkennen, dass eine kleine Linie im Hintergrund manchmal schon genug sein kann. Von Minimal-Art würde man in der Kunst sprechen, hier ist Purismus gemeint. "Penn lehrte mich, das Bild von Überflüssigem zu reinigen", schwärmt er und spricht fortan nur noch im Superlativ.

Der Charme des Unperfekten

Eine Art, die eigentlich gar nicht zu Gastel passt - außer eben, er spricht von Bildern, Kunst und Schönheit. Wenn es um seine Arbeit geht, übt er vornehme Zurückhaltung. Schließlich gilt es, die Kollektion zu präsentieren, nicht das Bild. Dann erst folgt sein künstlerischer Anspruch, eine Art doppelter Boden, der sich durch alle seine Werbekampagnen und Fotostrecken zieht. Gastel hat dafür eine eigene Technik reserviert, den Cross- oder auch Old-Mix: Es handelt sich um ein Zufallsprodukt, das er einem Assistenten zu verdanken hat. Der hatte großformatige Polaroids einfach einmal technisch falsch entwickelt, was aber eine neue interessante Ästhetik ergab. In digitalen Zeiten natürlich eine Technik mit Verfallsdatum. Polaroidfotografie ist zu einem Stilmittel geworden, das sich nur noch die wenigsten Fotografen leisten wollen - und bald auch können. Als Gastel hörte, dass die Produktion seiner geliebten 20x25 großformatigen Sofortbilder eingestellt wird, füllte er sofort den Keller seines Studios mit noch verfügbaren Restbeständen auf. Ganz unabhängig von diesem Aufkauf soll sein Händler einmal zu ihm gesagt haben: "Gastel, Sie verbrauchen mehr Polaroids als die gesamte Schweiz."

Wer mit Polaroid arbeitet, fotografiert mit der besten Kamera, Kaufpreis: manchmal fünfstellig. Dann geht es um das eine Bild. Nicht um die Auswahl des Besten aus 500, dafür ist das Material zu teuer. Das Arrangement muss perfekt sein, bevor abgedrückt wird, Versuch und Irrtum kann sich keiner leisten. Dafür wird das Licht noch mal geprüft, die Linse neu eingestellt, die Tasche noch einmal gedreht - hoch, runter, oder eher seitlich. Was hingegen nicht funktioniert mit Polaroid: Nachbelichten, damit die Farben an den richtigen Stellen satter oder gemäßigter kommen; Verändern der Bildkomposition im Photoshop. Gerade bei Stillleben-Aufnahmen überlassen normale Fotografen lieber nichts dem Zufall. Das eingefrorene Arrangement soll lupenrein und gestochen scharf sein. So steht dann ein Schuh, eine Handtasche oder ein Schmuckstück im XXL-Zoom eher keimfrei auf der Seite.

"Ja", sagt Giovanni Gastel dazu schmunzelnd, "so machen es die meisten: sich einfach". Der italienische König des Stilllife kann sich so eine erhabene Haltung leisten. Obwohl auch seine Inszenierungen für Modefirmen wie Tod's, Trussardi, Krizia und Dolce & Gabbana, oder für Magazine wie Elle oder Vogue auf den ersten Blick perfekt durchdacht wirken, haben sie doch immer den Charme des Unperfekten. Kampagnen wie für den Ledergiganten Tod's wirken zwar auf den ersten Blick klar strukturiert: Model, Accessoire, Hintergrund - klar und überschaubar. Doch dann bringen einen die Motive dazu, länger hinzuschauen als üblich. Man entdeckt auf einmal Widersprüche, die faszinieren. Ist es seine Technik oder schlicht ein neuer Blickwinkel? Die Frage bleibt unbeantwortet, es scheint eine Mischung aus beidem zu sein. Giovanni Gastel sieht sich als Auftragskünstler. Er mache Porträts von Kleidern, sagt er. Fotografiert er seine Models, sehen sie elegant, fast kühl aus. Eine gänzlich unitalienische Form der Erotik, aber ganz nach Gastels Geschmack.

Manchmal dauert es nur 30 Sekunden, dann wieder eine halbe Stunde, bis das Bild, die ideale Komposition und damit die Umsetzung seiner Vorstellung steht. Wenn es länger dauert, bricht er das Geflecht, eine neue Idee muss her. Bilder sind schnell. Als Fotograf braucht man ein schnelles Auge, muss schnell handeln. Das unterscheidet ihn vom reinen Künstler. Doch ist es nicht auch Kunst, was Gastel macht? Darauf antwortet er: "Ich weiß nicht genau, was ich tue, ist es nur ein Job oder ist es Kunst? Das ist nicht mein Problem." Er will Bilder machen, die gefallen, nur dann fühlt er sich gut. Was dabei herauskommt, ist ihm egal. So spricht jemand, der für seine Arbeit verehrt wird.

Und das wird er, nicht nur von seinen Assistentinnen. Die italienische Elle widmet ihm jetzt einen Fotoband mit hübschem Wortspiel im Titel, "Guest Elle", der die gemeinsame Arbeit in den vergangenen zwanzig Jahren dokumentieren wird. Eine fotografische Biographie, denn jede seiner Aufnahmen sieht Giovanni Gastel auch als eine Art Selbstporträt. Etwas sehr Persönliches. Es ist die Suche nach dem perfekten Bild, nach absoluter Schönheit. Ein Antrieb, der nur die Besten der Modefotografie vereint.

© SZ vom 11./12.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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