Medikamentensucht:Abhängigkeit auf Rezept

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Die Sucht nach Medikamenten ist in Deutschland fast genauso verbreitet wie die Abhängigkeit von Alkohol. Ausgelöst wird sie offenbar häufig durch nachlässige ärztliche Verschreibungen.

Hanno Charisius

Die Sucht nach Medikamenten ist in Deutschland fast genauso verbreitet wie die Abhängigkeit von Alkohol. Einer am gestrigen Montag in Berlin veröffentlichten Studie der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren (DHS) zufolge sind 1,4 bis 1,9 Millionen Deutsche süchtig nach Arzneien.

Etwa eine Million Betroffene treiben Missbrauch mit Schlaf- und Beruhigungsmittel. "Medikamentenabhängigkeit und -missbrauch ist in Deutschland ein Massenphänomen", fasste die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing, die Ergebnisse des Berichts zusammen.

Besonders gebräuchlich ist der Medikamenten-Abusus unter Frauen und älteren Menschen. "Männer lösen ihre psychischen Spannungen überwiegend mit Alkohol", sagt der DHS-Geschäftsführer Rolf Hüllinghorst.

Arzneimittelabhängigkeit sei im Vergleich zum Alkoholismus eine "stille Sucht", die besonders häufig durch nachlässige ärztliche Verschreibungsgepflogenheiten ausgelöst werde.

Unzureichende oder falsche Behandlung von psychischen Erkrankungen, Schlaflosigkeit und chronischen Schmerzen nennt die Studie als eine Ursache des Missbrauchs.

"Viele der Befragten gaben an, dass sie Vorräte für mehrere Monate bekommen hätten, wo vielleicht eine zweiwöchige Therapie genügt hätte", sagt Suchtexperte Hüllinghorst.

Hilfe ist nur schwer zu finden

Die DHS-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass Medikamentensüchtige ihre Probleme lange Zeit verheimlichen und überdies nur schwer Hilfe finden. Von den Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe würden sie kaum erreicht.

"58 Prozent der Menschen, die in die Beratung kommen haben ein Alkoholproblem", sagt Hüllinghorst. 19,5 Prozent kommen wegen Opiat-Missbrauchs, 11,3 Prozent haben ihren Cannabis-Konsum nicht mehr unter Kontrolle.

Medikamentenmissbrauch falle wie auch Glücksspiel und Ess-Störungen mit jeweils nur etwa zwei Prozent der Anfragen im Beratungsalltag kaum ins Gewicht. Das stehe allerdings in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Ausmaß der Problematik.

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Bätzing, kündigte an, mehr Aufklärung betreiben zu wollen. Die Bundesärztekammer erarbeite derzeit einen neuen Leitfaden für Mediziner und Apotheker zur Verschreibung von Medikamenten.

© SZ vom 14.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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