Medikamente:Gefährliches Versteckspiel

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Arznei-Nebenwirkungen werden systematisch unterschlagen.

Werner Bartens

Am 30. September 1982 starben sechs Menschen in Chicago nach der Einnahme von Acetaminophen. Das Medikament war mit Blausäure verunreinigt. Im März 2006 erlitten sechs Menschen schwere Nebenwirkungen während eines Medikamententests in London.

Die Nebenwirkungen von Medikamenten sind oft nicht vollständig bekannt. (Foto: Foto: ddp)

In Chicago war es durch menschliches Versagen zu der Blausäurebeimischung gekommen. Das Mittel in London befand sich im Test, es war noch nicht auf dem Markt. "Es wäre gut, wenn wir uns nicht nur über solche Unfälle empören, sondern auch die Nebenwirkungen von Medikamenten stärker beachten, die längst großflächig in Gebrauch sind", sagt Jerry Avorn von der Harvard-University.

"Diese Nebenwirkungen können Tausende Patienten krank machen oder umbringen." Pharmakologe Avorn hat Erfahrungen damit, wie in Pharmastudien gefährliche Nebenwirkungen zwar entdeckt werden, die brisanten Daten aber unter Verschluss bleiben (New England Journal of Medicine, Bd.355, S.211, 2006).

Aprotinin wird von Ärzten für unsicher gehalten

Beispiel Aprotinin: Das als Trasylol bekannte Mittel von Bayer soll die Blutungsneigung und andere Komplikationen nach Herzoperationen vermindern. Seit 1993 ist es zugelassen, seitdem gibt es Ärzte, die das Mittel nicht für sicher halten.

Es dauerte jedoch bis zu diesem Frühjahr, bis der Verdacht erhärtet wurde. In einer großen Untersuchung mit mehr als 4000 Teilnehmern stellte sich heraus, dass bei Patienten gehäuft Nierenversagen, Herzinfarkt, Herzinsuffizienz oder Schlaganfall auftraten, wenn sie nach einem Eingriff an den Herzkranzarterien Aprotinin bekamen (SZ, 2.2.06).

Beispiel Rofecoxib: Das von Merck als Vioxx vertriebene Schmerzmittel wurde am 30.September 2004 vom Markt genommen. Das Unternehmen musste zugeben, dass Vioxx das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall verdoppelte. Zu diesem Zeitpunkt war das Medikament fünf Jahre im Handel. 20 Millionen Menschen hatten es schon eingenommen.

Nebenwirkungen nicht vollständig bekannt

Manchmal werden schwere Nebenwirkungen zufällig in einer Studie oder durch gehäufte Zwischenfälle bekannt, wenn ein Mittel jahrelang in Gebrauch ist. "Das komplette Sicherheitsprofil eines Medikaments kennt man zum Zeitpunkt der Zulassung selten", sagt William Hiatt von der US-Kontrollbehörde FDA.

Im Fall von Aprotinin und anderen Arzneien, die sich später als gefährlich entpuppten, wussten die Firmen aber längst von den Risiken, bevor ihr Produkt in die Kritik geriet. Bayer habe, so Avorn, eine private Forschungsfirma engagiert, um eine große Studie zur Verträglichkeit und den Nebenwirkungen von Aprotinin zu erstellen.

Die Ergebnisse ähnelten denen, die das Medikament in diesem Frühjahr in die Schlagzeilen brachten - mehr Nierenschäden, mehr Herzinfarkte, mehr Todesfälle. Doch weder Bayer noch die beauftragte Firma meldeten den zuständigen Kontrollbehörden die beunruhigenden Zwischenfälle.

Merck hatte zwar öffentlich immer wieder geleugnet, dass Vioxx das Risiko für Infarkte steigern würde. Dennoch wurden zwei Studien in Auftrag gegeben, um den möglichen Zusammenhang zu untersuchen. Beide Studien bestätigten das erhöhte Risiko.

Ergebnisse werden nicht veröffentlicht

Die Daten der ersten, an der auch Jerry Avorn beteiligt war, wurden verworfen und die Untersuchungsmethode kritisiert, die das Unternehmen zu Beginn noch akzeptiert hatte. Die zweite Studie wurde von derselben Firma erstellt, die auch Aprotinin untersucht hatte - diese Ergebnisse wurden erst veröffentlicht, als das Medikament nicht mehr auf dem Markt war.

Mehrere Hersteller neuartiger Antidepressiva finanzierten klinische Studien, veröffentlichten aber nur diejenigen Ergebnisse, die ihnen passten.

Vollstände Kontrolle unmöglich

Das Risiko, dass gefährliche Nebenwirkungen verschwiegen werden, lässt sich kaum mindern. Pharmafirmen müssen über ihre Medikamentenstudien keine Rechenschaft ablegen.

Niemand kann sie zwingen, Ergebnisse zu veröffentlichen, die nachteilig für die eigenen Produkte sind. "Es kommt immer wieder vor, dass Firmen sagen, dass sie ganz andere Daten haben, sie aber nicht herausrücken", sagt Peter Sawicki. Er leitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das bewertet, welche Therapien nützlich und sinnvoll sind.

Obwohl in Industrieländern etwa zehn Prozent des Bruttosozialprodukts in das Gesundheitswesen fließen, ist offenbar kein Geld für unabhängige Anwendungsbeobachtungen vorhanden.

So sind Ärzte wie Patienten weiter auf pharmafinanzierte Studien angewiesen - und wenn diese überhaupt veröffentlicht werden, sind die Daten oft verzerrt und einseitig. Werden die Studien jedoch nicht veröffentlicht, zeigen sich die Nebenwirkungen spätestens im Großversuch an den Patienten.

© SZ vom 25.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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