Krimi:Neles unfreiwillige Weltreise

Lesezeit: 6 min

Diese Ausgabe ist besonders - sie ist ein Rätselkrimi. Es ist die vorerst letzte Corona-Kinderseite in der SZ. Vielen Dank fürs Lesen, Nachfragen, Miträtseln, Weitermalen, Verrückt werden. Es hat uns sauviel Spaß gemacht!

Text: Till Raether; Illustrationen: Adam Higton

Nele hat ein komisches Gefühl. Eine Mischung aus Angst und Vorfreude. Wie kurz vor der Achterbahn. Wenn sie den orangefarbenen Plastikchip mit der goldenen Schrift schon in der Hand hat, aber plötzlich nicht mehr weiß, ob sie sich freuen oder wegrennen soll. Aber diesmal ist es wegen der Schule.

Vorfreude, weil - na ja, sie hat jetzt lang genug mit Opa und ihrem kleinen Bruder Jo zu Hause gesessen. Und sie ist gespannt, ob jemand was zu ihren schulterlangen Haaren sagt. Vielleicht wird Luise sich über sie lustig machen? Luise wohnt im selben Haus und ist in der 5c wie Nele. Luise ist fies. Und cool. Und lustig. Aber fies. Die Klasse ist jetzt in zwei Gruppen aufgeteilt, und Nele ist ausgerechnet in derselben wie Luise. Dieses Biest. Ihre Eltern mögen es nicht, wenn Nele sie so nennt. Aber Nele fühlt sich dann einen Moment besser. Und schlechter.

Wenn sie jetzt vor der Achterbahn stünde, würde sie den Chip in die Hosentasche stecken. Für später. Bei Schule geht so was nicht. Nele schwingt sich vom Bett. Es ist schon fast Mittag. Ihr Bruder Jo hat sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Er ist beleidigt, weil Nele wieder in die Schule darf. Dabei will er doch dorthin. Er, der große Landkartenfan. Das ganze Frühjahr hat er sich mit Opa irgendwelche alten Atlasse angeschaut, die Atlanten heißen. Manchmal spinnt er richtig, findet Nele: Der hohe Teppich im Wohnzimmer ist dann seine Steppe, die Bücherregale sind Berge, unter den Betten Tropfsteinhöhlen. Aber er wird erst im September eingeschult. Dabei kann er doch schon lesen und schreiben! Nervig, wie er damit angibt. Ihre Mutter sagt, Jo sei traurig. Nele findet ihn einfach nur anstrengend.

Sie zieht ihren gelben Rucksack unterm Bett raus. In der Mail vom Lehrer steht: Federmäppchen, Hausaufgabenheft, Wasserflasche, Deutsch-Heft, Englisch-Heft, Mund- Neles unfreiwillige Weltreise 1 Nase-Schutz. Warum nicht einfach Maske, denkt Nele. Zum Glück weiß Nele ganz gut, wo die Sachen sind: in ihrem Zimmer und auf dem Esstisch. Zwischen den Frühstückssachen, die Nele noch abräumen muss. Die Erwachsenen lassen ganz schön viel Arbeit da, wenn sie arbeiten gehen, findet Nele.

Nach ein paar Minuten wird Nele nervös. Sehr nervös: Sie findet absolut gar nichts! Sie wummert an Jos Zimmertür. Er weiß genau, dass er sich nicht einschließen darf. "Jo!", schreit sie, lauter als nötig, "hast du mein Federmäppchen?" Sonst ist Opa bei Nele und Jo, wenn ihre Eltern in der Arbeit sind. Aber vorhin hat er angerufen: ein Arzttermin, nichts Schlimmes, aber das wird dauern.

Sie hört Geraschel. Dann kommt unter der Tür ein handgeschriebener Zettel durch: "DAIN FEDAMEPEN IS BAIN PENGUNE".

"Mann, Jo", schreit Nele. "Du kannst echt nicht schreiben!" Sie weiß, das war gemein. Aber was soll das auch heißen? Nele seufzt. Dramatisch laut, damit man es auch ja durch die Tür hört. Eigentlich mag sie Rätsel. Pengune? Das könnten Pinguine sein, in Jo-Schreibung. Und wo leben die? Nele läuft zum Kühlschrank, reißt das Kühlfach auf. Nichts außer tiefgefrorenem Rosenkohl. Oh nein, gibt es den etwa heute Abend? Nele hat einen Verdacht. Wenn Jo sich das Haus als Weltkarte, vielleicht als Globus vorstellt, dann ist der Kühlschrank hier in ihrer Wohnung im dritten Stock vielleicht der Nordpol. Und der Südpol ... Muss das sein? Die alte Tiefkühltruhe im Kellerabteil. Nele hasst den Keller. "Mann, Jo!", brüllt sie, nimmt den Kellerschlüssel vom Haken und läuft die Treppe runter. Im zweiten Stock beeilt sie sich besonders, vorbei an Luises Tür.

Um was in die Tiefkühltruhe zu werfen, muss man den schmatzenden Deckel nur anheben, reinschubsen, fertig. Um etwas rauszuholen, muss Nele den Deckel mit einem Arm hochhalten und sich mit dem anderen auf der Kante abstützen, bis ihre Füße den Boden nicht mehr berühren. Das einzige Licht kommt aus dem Kellergang, und alle zwei Minuten geht es mit einem Klackgeräusch aus. Zum Glück ist ihr Federmäppchen rot, da hinten ... Nein, ein Gefrierbeutel mit steinharter Tomatensauce. Ihr Arm wird schwach. Der Truhendeckel drückt auf ihren Kopf. Klack. Das Licht geht aus. Nele wühlt im Eiskalten. Hat sie sich getäuscht? Da fühlt sie das Leder ihres Schlampers. Als sie das Licht wieder anmacht, sieht sie, dass eine Dose daran festgefroren ist: "Papas legendärer Schweinsbraten, Oktober 2018", steht drauf.

Nele rennt zurück in die Wohnung. Aber bevor sie schimpfen kann, hört sie ein Kichern aus Jos Zimmer. Der nächste Zettel kommt unter der Tür durch: "DAINE MASSKE IS IN VEDENIG". Das klingt, als würde jemand mit Erkältung Venedig sagen. Und wo in der Wohnung ist Italien? Was ist typisch für Venedig? Die Kanäle, die Gondeln? Hängt ihre Maske vom Wasserhahn oder so was? Nein. Dann hat sie eine andere Idee. Und tatsächlich, dort ist die Maske. Kannst du dir vorstellen, wo Nele sie gefunden hat?

"Jo, komm mal raus, ich brauch mein Zeug, ehrlich. Bitte." Keine Antwort. Ist wirklich alles okay bei ihm? Was, wenn er die Tür nicht aufkriegt? Ein bisschen fühlt sie sich im Stich gelassen von Opa. Warum ist er ausgerechnet heute nicht da?

Der nächste Zettel: "DAIN HAUSAUFGABNEFT IS AN DEA ZAUBAKÜSSTE 30 60 90." Hm. Jo spielt oft, dass die Badewanne das Meer ist. Aber was könnten die Zahlen bedeuten? Noch wichtiger sind die Hefte. Wenn Jo die verbummelt hat ... "DAIN ENLISCHEFT IS WO DI LOITE ENLISCH SIN", schreibt Jo. Und wo sind die Leute in der Wohnung Englisch? Im Fernsehen? Selten. Bei den Büchern? Die sind eigentlich alle auf Deutsch. Was gibt es in der Wohnung auf Englisch? Und ist so groß, dass Jo ein DIN-A4-Heft dazwischen verstecken kann? Jo hat noch eine Erdbeere und eine Geldmünze gemalt, auf der krakelig "1 Penni" steht. Ha! Sie weiß es und summt vor sich hin.

"Deine Rätsel sind gar nicht sooo schlecht!", ruft sie. Keine Antwort. Hoffentlich ist das Fenster in seinem Zimmer zu.

"DAIN DEUTSHEFT IS IM SLARFENLAND", kommt unter der Tür hindurch. Im Schlaraffenland? Wo es immer Essen und Trinken gibt? "In der Küche!", ruft Nele. "Jo, die Küche ist zu groß!" Sie hört fast, wie Jo hinter der Tür überlegt, er flüstert vor sich hin. Dann sagt er mit tiefer, etwas alberner Zaubererstimme: "Bei den Sachen, die man nicht essen kann. Aber wenn man die hat, weiß man, was man essen kann. Und es ist schwieriger und einfacher zugleich. Wie Zauberei." Puh. Wenigstens ist er nicht aus dem Fenster gefallen.

Nele braucht fünf Minuten, um ihr Deutschheft in der Küche zu finden. Zwischendurch ruft sie Opa an. "Ich kann jetzt nicht sprechen", sagt der leise, "ich bin im Wartezimmer." Toll. Opa ist kein guter Telefonjoker.

"DAINE FLASCHE IS IM LAND DEA VERBOTTNEN WÖRTA." Nele hat sofort dieses Gefühl, wenn man etwas weiß, bevor man es weiß. Oh Mann, Jo. So oft haben ihre Eltern beim Abendessen gesagt: "Sag bitte nicht Biest und auch nicht Schnepfe, und die anderen Schimpfwörter will ich gar nicht wiederholen", wenn sie sich über Luise aufregt. Weil Luise sie mal wieder übersehen hat, mit den anderen getuschelt hat, einen Witz über Neles alte, aber geliebte Sneaker gemacht hat, oder mit ihrem iPhone angibt. Mit Opa hat Nele einmal Schimpfwörter gesammelt, die nicht so beleidigend, aber trotzdem gut sind. Mit Herzklopfen geht Nele die Treppe hinunter zu Luise. Sie hat wieder dieses Achterbahngefühl. Den Chip in der Hand - lieber wegrennen? Sie klingelt.

Luise macht vorsichtig die Tür auf.

"Na?"

"Na?"

Nele weiß nicht weiter. Luise hat kürzere Haare und einen Pony und sieht gar nicht glücklich aus. Sie hält Neles Flasche in der Hand. "Hier, die hat mir vorhin dein Bruder gebracht. Keine Ahnung, warum."

"Mein Bruder ist komisch."

"Ja."

"Danke für die Flasche."

"Die ist cool. Ich darf so eine nicht. Meine Mutter sagt, ich verlier' die", sagt Luise.

"Du kannst gern mit aus meiner trinken", sagt Nele. Dann: "Ach nee, das dürfen wir ja nicht."

"Nächstes Schuljahr", sagt Luise.

"Deine Haare sehen gut aus", schwindelt Nele.

Luise grinst, als würde sie das durchschauen, sich aber trotzdem freuen.

"Holst du mich morgen um Viertel vor ab?", fragt Luise. "Du bist doch auch Gruppe B."

"Cool", sagt Nele.

Dann läuft sie schnell nach unten, bevor Luise vielleicht doch noch was Fieses sagt. Sie stellt bei Jos Fahrradschloss eine neue dreistellige Nummer ein und schiebt ihm einen Zettel unter der Tür durch: "Denke dir eine dreistellige Zahl aus und lies sie noch mal von hinten. Du hast jetzt zwei Zahlen. Ziehe die kleinere der beiden dreistelligen Zahlen von der größeren ab. Das Ergebnis ist deine neue Fahrradschlossnummer, wenn die erste Ziffer dein Alter ist. Und ja, da musst du dir dann von Opa helfen lassen. Und von Oma. Mindestens." Der wird sich ärgern. Falls er überhaupt je wieder aus seinem Zimmer kommt.

Na ja, aus seinem Zimmer kommt nicht nur Jo. Sondern auch Opa. Die beiden geben sich so einen typisch ungeschickten Opa-Enkel-High-Five. Wie das eben aussieht, wenn einer erst sechs ist und der andere zwölfmal so alt. Jo ist immer noch im Schlafanzug. Opa sagt, er hat jetzt riesigen Kaffeedurst, nach all den Rätseln.

"Und ich dachte, du lässt mich im Stich", sagt Nele. "Niemals", sagt Opa.

Nele hat all ihr Schulzeug gefunden. Du auch? Wo könnten Hausaufgabenheft und Maske sein? Deutschund Englisch-Heft? Fallen dir gute, nicht zu fiese Schimpfwörter ein? Und wie ist der Code vom Fahrradschloss? Auflösungen morgen auf den Kinderseiten.

© SZ vom 12.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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