Kleinster Mensch der Welt:"Ich will einfach weg"

Lesezeit: 4 min

70 Zentimeter Leben: Wie sieht der Alltag des kleinsten Menschen der Welt aus? Ein Anruf bei Edward Niño und seiner Familie im Armenviertel von Bogotá.

Camilo Jiménez

Die Verbindung ist schlecht. Man hat mehrere Termine ausmachen und mehrmals anrufen müssen, um Edward Niño endlich ans Telefon zu bekommen. Nun ist seine Mutter, Noemí, am Apparat. Die Familie des kleinsten Menschen der Welt wird seit Tagen von Journalisten belagert, so auch heute. "Stellen Sie bitte kurze Fragen, er kann mit komplizierten Formulierungen wenig anfangen", sagt Noemí. "Ich mache jetzt den Lautsprecher an." Edward Niño ist 24 Jahre alt und nur 70 Zentimeter groß. Er hat eine sehr helle Stimme. Will er etwas ausführlich erzählen, fehlt ihm dazu oft die Luft. Nach fast jeder Antwort sagt er: "Sí, señor" - "Ja, mein Herr."

Kein Arzt hat ihnen bis heute erklären können, warum Edward Niño so klein blieb. Das Guinness-Buch der Rekorde hat ihn gerade zum kleinsten Menschen der Welt ausgerufen. (Foto: AP)

Süddeutsche Zeitung: Wie geht es Ihnen, Edward?

Edward Niño: Es geht, danke.

SZ: Sie sind sicher müde.

Niño: Ja, aber das macht nichts.

SZ: Es gibt sehr viele Stimmen im Hintergrund. Wer ist denn noch alles da?

Niño: Meine Mutter, mein Vater, meine fünf Brüder, Opa und Oma.

Edward kam im Jahr 1986 zur Welt. Er wog nur halb so viel wie ein gesundes Kind. Ärzte gaben ihm wenige Monate zu leben. Danach hieß es, Edward werde nicht älter als 18 Jahre. Noemís erstes Kind war jedenfalls so eigenartig, dass die Großmutter dachte, Edward sei verzaubert worden.

Sie nahm ihn mit auf ein Feld, ließ eine Kuh schlachten und legte das Baby auf die Eingeweide des Tieres. Doch nichts veränderte sich. Kein Arzt hat ihnen bis heute erklären können, warum der Junge so klein blieb. Edward wiegt nur neun Kilo und trägt ein künstliches Gebiss, weil er alle Zähne verloren hat. Das Guinness-Buch der Rekorde hat ihn gerade zum kleinsten Menschen der Welt ausgerufen.

SZ: Edward, vor drei Jahren waren Sie schon einmal von Medien umgeben. Sie wurden damals zum kleinsten Menschen Kolumbiens gekürt.

Niño: Ja, schon damals kamen Journalisten zu uns, machten ihre Arbeit und gingen wieder. Immerhin druckte ein kolumbianisches Magazin eine tolle Reportage über mich. Die Ausgabe habe ich noch.

Mutter Noemí ruft im Hintergrund: "Guckt mal, hier steht Edward neben nackten Frauen!" Die ganze Familie lacht. Als es im Zimmer wieder leiser ist, sagt die Mutter: "Journalisten profitieren immer von Edwards Geschichte, doch wir haben nach dem Medienwirbel letztes Mal keinen Cent gesehen." Sie hofft, dass es diesmal anders wird. Immerhin hat sich die Krankenkasse gemeldet, die Edward zuletzt von allen Leistungen ausgeschlossen hatte. Man habe sich entschuldigt und angekündigt, ein Mitgliedsausweis sei nun unterwegs.

SZ: Edward, wie verhalten sich Kinder gegenüber Ihnen?

Niño: Sie denken, ich wäre auch ein Kind. Dann kommen sie auf mich zu. Wenn sie mich näher betrachten und reden hören, erschrecken sie und fangen an zu weinen. Ich versuche immer zuerst vorsichtig "Hallo" zu sagen. Aber das kommt nicht gut an. Ich bin deshalb nur selten an Orten, wo viele Leute sind.

SZ: Welche Schwierigkeiten haben Sie noch in Ihrem Alltag?

Niño: Ich kann nicht mit dem Auto fahren. Auch fehlt es den Leuten oft an Rücksicht. Erst sieht mich keiner, dann staunen die Menschen in Mengen über mich. Einmal hat ein Taxifahrer versucht, mich zu entführen. Keine Ahnung, warum er das tun wollte. Ich habe ihm mit meinen Fingernägeln dermaßen wehgetan, dass er mich loslassen musste.

SZ: Das haben Sie gut gemacht. Was bedrückt Sie sonst noch?

Niño: In Bogotá sind viele Straßen nicht gepflastert. Wenn ich spazieren gehe, werde ich schnell dreckig. Deshalb gehe ich fast nie raus.

SZ: Sie tanzen in einem Club, in dem man Sie "Pünktchen" nennt. Damit verdienen Sie Geld.

Niño: Ich bin immer wieder dort, und alle wollen, dass ich auf einem Tisch tanze. Das tue ich dann auch. Dann kommen Leute und fangen an, Fotos zu machen.

Nun lacht die Familie noch einmal sehr laut, denn einer der Brüder hat daran erinnert, dass Edward oft neben den schönsten Frauen tanzen darf. Edward kichert verlegen. Doch diese Freude hat eine dunkle Seite. Tatsächlich sind seine Auftritte demütigend.

Er setzt sich eine Sonnenbrille auf, hüpft auf einem Tisch und lässt sich fotografieren. Dafür bekommt er Trinkgeld. "Manchmal bringt er 30 Euro nach Hause, manchmal nichts", sagt Noemí. Edward lebe von den Eltern, im Club suche er Anerkennung sowie einen Ort, um Einsamkeit und Depression zu entfliehen.

SZ: Ihre Berühmtheit, Edward, bringt aber auch viele Vorteile mit sich, oder?

Niño: Ich mag es und bin sehr glücklich. So habe ich schon berühmte Sänger und Schauspieler kennengelernt. Unseren Präsidenten Juan Manuel Santos habe ich gerade in seinem Palast besuchen dürfen. Jetzt will ich nur noch den Ex-Präsidenten Uribe kennenlernen.

SZ: Warum?

Niño: Das sind alles wichtige Menschen.

SZ: Und wie geht es nun weiter, in Ihrem Leben?

Edward tanzt in einem Club - dort sucht er Anerkennung sowie einen Ort, um Einsamkeit und Depression zu entfliehen, sagt seine Mutter. (Foto: Reuters)

Niño: Vielleicht bietet man mir an, in Werbespots aufzutreten. Da könnte ich mir etwas Geld verdienen.

SZ: Was wollen Sie mit dem Geld machen?

Niño: Ich will eine Finca und einen Peugeot, nein, einen Pick-up von Toyota - oder einen Mercedes. Obwohl ich die alle selber gar nicht fahren kann. Aber ich sitze immer sehr gerne auf dem Beifahrersitz, wenn jemand aus meiner Familie am Steuer sitzt. Ich mag auch Parfüms. Je feiner das Parfüm, desto besser. Zum Beispiel ...

Die Brüder wollen ihm bei der Aufzählung helfen: "Carolina Herrera! Yanbal!" Der Vater unterbricht, die Medien sollten lieber hören, was sein Sohn wirklich braucht - beispielsweise eine Operation: Edward Niño leidet unter Grauem Star, er sieht immer schlechter und kann nicht lesen. Der Präsident Santos hat ihm bei ihrem Treffen in dieser Angelegenheit volle Unterstützung versprochen. Ob sie tatsächlich kommt? "Sag", ruft der Vater, "dass wir Hilfe brauchen. Dass du alle deine Träume erfüllen willst!"

Niño: Das alles kostet sehr viel Geld, und das haben wir nicht. Ich brauche Hilfe von der ganzen Welt, auch für eine Augenoperation. Ich brauche eine neue Küche, einen neuen Kühlschrank und ein neues Bad.

SZ: Haben Ihnen die Leute von Guinness kein Geld gegeben?

Niño: Nein. Sie haben mir kein Geld gegeben, nur einen Eintrag in das Buch der Rekorde.

Um sich vorzustellen, wie groß die Not der Niños tatsächlich ist, muss man hören, was Noemí vom Leben der Familie in der Millionenstadt Bogotá berichtet. Gerade Edward lebt dort in totaler Abhängigkeit. Aufs Klo geht er nie allein, beim Essen muss ihm jemand helfen, Spaziergänge macht er nur in Begleitung. Er wohnt im Elternhaus, in einer winzigen Wohnung, die man ihm irgendwann halbwegs eingerichtet hat: ein kleiner Tisch, ein nutzloses Fahrrad, ein stinkendes Bad.

SZ: Wo wohnen Sie genau?

Niño: In Bosa, einem Armenviertel im Süden der Stadt. Bogotá habe ich nie verlassen. Es muss schön sein zu reisen.

SZ: Wohin zum Beispiel?

Niño: Nach China, Japan.

Hinten ruft jemand: "Brasilien!" Ein anderer: "Indien!"

SZ: Was wollen Sie an all diesen Orten machen?

Niño: Ich will einfach weg. Einfach mal weg.

© SZ vom 13.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: