Kampf gegen den Krebs:Letzte Hoffnung Wunderpille

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Verzweiflungstat, Geldmacherei - oder der Beginn eines medizinischen Märchens? Ein Amerikaner verkauft ein Mittel an schwerkranke Krebspatienten, das im Tierversuch hilft, aber noch nicht an Menschen getestet wurde.

Werner Bartens

Ist es eine Verzweiflungstat, Geldmacherei - oder der Beginn eines medizinischen Märchens?

(Foto: Screenshot)

Wahrscheinlich ist von allem etwas dabei. Andererseits klingt die Geschichte fast zu schön, um wahr zu sein: Ein einfaches Arzneimittel, noch dazu preiswert, erweist sich plötzlich in wissenschaftlichen Versuchen als wirksam gegen Krebs.

Dichloracetat (DCA), so heißt die Substanz, nimmt den Krebszellen ihre Unsterblichkeit und ihr ungebremstes Wachstum und hungert auf diese Weise den Tumor aus. Da das Mittel seit Jahren bei seltenen Stoffwechselstörungen - so genannten mitochondrialen Krankheiten - eingesetzt wird, wissen die Ärzte, dass es ziemlich zuverlässig und sicher wirkt.

Zudem hält keine Firma ein Patent auf das Medikament, sodass die Herstellungskosten vergleichsweise gering ausfallen.

Ein entscheidender Schönheitsfehler trübt allerdings die Erfolgsgeschichte vom unscheinbaren Medikament, das plötzlich zum Hoffnungsträger für Millionen Schwerkranke werden könnte:

Bisher ist nicht sicher, ob das Medikament Menschen mit Krebs überhaupt hilft. Deshalb ist es auch bisher von keiner Arzneimittelbehörde der Welt für die Behandlung von Tumoren zugelassen worden.

Arznei Marke Eigenbau

Die Ergebnisse der Laborversuche sind dennoch beeindruckend. Forscher um Evangelos Michelakis von der University of Alberta im kanadischen Edmonton haben im Januar zeigen können, dass DCA Lungenkrebs bei Ratten innerhalb von einer Woche zum Stillstand brachte ( Cancer Cell, Bd. 11, S. 37, 2007). Nach drei Monaten hatte sich die Größe der Tumore mehr als halbiert.

Auch in anderen Laborversuchen zeigte sich die Wirkung des bisher verkannten Mittels. Wurde DCA auf Körpergewebe im Reagenzglas gegeben, das aus Lungenkrebs-, Brustkrebs- oder Hirntumorzellen bestand, tötete die Substanz gezielt die entarteten Zellen ab, während sie gesundes Gewebe nicht attackierte.

"Gäbe es eine Wunderpille, es wäre wohl so etwas wie Dichloracetat", schrieb die Zeitschrift Newsweek daraufhin euphorisch. In der Entwicklung von Medikamenten sind allerdings eine Reihe von Experimenten an Zellen, Gewebe und mit Tieren notwendig, bevor eine Substanz in kontrollierten Studien an Menschen getestet und danach eventuell zugelassen werden kann.

Andere Forscher horchten auf, als sie von den Ergebnissen aus Kanada erfuhren. Sie begannen mit weiteren Untersuchungen der Substanz, und die Gruppe von Evangelos Michelakis selbst plant bereits erste klinische Tests.

Doch vielen Patienten geht das nicht schnell genug. Ein Krebskranker, der womöglich nur noch wenige Monate zu leben hat, kann nicht darauf warten, bis in einigen Jahren die klinischen Studien beendet sind und das Medikament zugelassen ist, argumentieren die Betroffenen. Sie fordern das Medikament jetzt sofort für sich - ohne langwierige Zulassungsverfahren.

Jim Tassano aus Sonora in Kalifornien wollte beispielsweise seinem sterbenskranken Tanzlehrer helfen. Er bestellte deshalb die Inhaltsstoffe von DCA bei einer Firma für Chemikalienbedarf und stellte das Mittel mit einem Chemiker selbst her.

"Es kann so viel Gutes für viele Leute tun", sagt Tassano. Er möchte andere Kranke von seinen Experimenten für den Eigenbedarf profitieren lassen. Auf seiner Website thedcasite.com bietet er Informationen über DCA an und hat ein reges Austauschforum für Patienten eingerichtet. Auf seiner zweiten Website kann man DCA kaufen (buydca.com).

Angeblich haben Hunderte Patienten bei Tassano das Mittel bestellt, sagte er dem Fachmagazin Nature. Da DCA nicht für die Therapie gegen Krebs zugelassen ist, bietet Tassano das Medikament "zur veterinären Verwendung" an.

Er handelt in einer gesetzlichen Grauzone; die amerikanische Zulassungsbehörde FDA will sich demnächst damit beschäftigen, dass Menschen ein Medikament verkauft wird, das als Tierarznei deklariert ist. Unterdessen kann man auf thedcasite.com verfolgen, wie Betroffene die ungeprüfte Therapie am eigenen Leib erleben.

"Gefährliches Lotteriespiel"

"Das erinnert an die frühe Phase der Aids-Bewegung", sagt Armin Schafberger, Mediziner bei der Deutschen Aidshilfe. Die Forderung, dass Todkranke Zugang zu Medikamenten haben sollten, die noch nicht zugelassen sind, ist spätestens durch HIV-Aktivisten zu Beginn der neunziger Jahre bekannt geworden. Schwerkranke wollen oftmals alle Möglichkeiten ausschöpfen, die eine Chance auf Heilung bieten - und seien sie noch so vage.

"Damals gab es aber auch noch keine erfolgversprechende Aids-Therapie", sagt Schafberger. "Heute steht der Sicherheitsaspekt im Vordergrund, deswegen sind wir skeptisch gegenüber der ungeprüften Anwendung von Medikamenten." Wenn es keine andere Therapie gebe, sei die Situation natürlich anders.

Evangelos Michelakis ist nicht glücklich über die Entwicklung, die seine Experimente ausgelöst haben. "Unsere Anstrengungen werden zunichte gemacht", sagt der Wissenschaftler. "Das geht in die falsche Richtung."

Niemand wisse, ob das Mittel wirklich hilft und nicht womöglich sogar mehr schadet als nutzt. In einer Studie aus dem vergangenen Jahr hatte DCA bei Menschen zu Nervenschäden geführt. Die Untersuchung musste aus diesem Grund vorzeitig beendet werden ( Neurology, Bd. 66, S. 324, 2006).

Eine Patientin mit fortgeschrittenem Brustkrebs schreibt auf thedcasite.com denn auch, dass sie sich "extrem müde" fühlt und Juckreiz am ganzen Körper spürt, seit sie DCA einnimmt. "Hat jemand Erfahrung mit Übelkeit und Zittern unter diesem Medikament - oder auch mit Schmerzen, dort wo der Krebs ist?", fragt sie auf Tassanos Website.

Wenn Krebspatienten auf eigene Faust DCA einnehmen, gibt es keine zuverlässige Kontrollgruppe, die zum Vergleich ein Scheinmedikament erhält. Deshalb können weder Nebenwirkungen der Therapie erkannt werden, noch ist es möglich zu bestimmen, ob etwaige Verbesserungen der Beschwerden wirklich auf das Medikament zurückgehen.

"Im Spätstadium von Krebs ist jedes Versprechen auf Heilung unseriös", sagt Claudia Wiesemann, Präsidentin der Akademie für Ethik in der Medizin. Die Ethikerin von der Universität Göttingen hält es nur für vertretbar, das nicht zugelassene Mittel zu nehmen, "wenn es keine andere heilende Behandlungsmöglichkeit gibt und die Krankheit tödlich verläuft".

Die Wahrscheinlichkeit auf einen Durchbruch in der Krebsbehandlung ist statistisch sehr gering. Tumorexperten schätzen, dass 95 Prozent der Medikamente, die in klinischen Studien zur Tumortherapie eingesetzt werden, später keine Zulassung bekommen.

In sorgfältigen Tests erweisen sich die anfangs als Hoffnungsträger gefeierten Medikamente dann als unwirksam - oder sie verschlechterten Lebensqualität und -erwartung der Krebskranken zusätzlich. "Mice tell lies - Tierversuche sagen gar nichts aus", sagt Claudia Wiesemann.

Das Anliegen, Zugang zu Arzneimitteln zu bekommen, auch wenn diese noch nicht zugelassen und am Menschen bisher nur unzureichend geprüft worden sind, ist für Ethiker verständlich. Es steht jedoch im Widerspruch dazu, wie in der medizinischen Forschung seriöse Ergebnisse darüber erhoben werden, ob eine neue Therapie wirkt oder nicht.

In den USA gibt es zwar auch Betroffene, die jetzt ein DCA-Register aufbauen und auswerten wollen, welchen Patienten mit welchem Krebs das Mittel geholfen hat. So wollen sie objektivere und wissenschaftlich zuverlässigere Ergebnisse erhalten. "Ich würde solchen Daten aus Patienteninitiativen aber nicht trauen", sagt Peter Jacobson, Ethiker an der University of Michigan in Ann Arbor.

Die Schwerkranken seien in ihrer Lage zwischen Hoffnung und Verzweiflung schließlich so darauf fixiert, eine erfolgreiche Behandlung zu finden, dass die Studien nicht zuverlässig sein könnten, argumentiert Jacobson. Langfristig würde mehr Patienten geholfen werden, wenn Patienten keinen Zugang zu Arzneimitteln bekommen, die noch nicht zugelassen sind.

Stattdessen sollten die Ergebnisse klinischer Tests abgewartet werden. Nur so kann verlässlich bestimmt werden, ob eine Substanz hilft oder schadet. "Es bleibt ein gefährliches Lotteriespiel, ein nicht zugelassenes Medikament zu nehmen", sagt Wiesemann. "Besonders riskant ist es, wenn das Mittel parallel zu anderen Therapien genommen wird."

© SZ vom 30.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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