Hilfe für Autisten:Der berechenbare Freund

Lesezeit: 4 min

Ein Roboter soll autistische Kinder aus ihrer Isolation befreien, hofft ein britischer Wissenschaftler. Denn "Kaspar" ist verlässlich und systematisch. Und Autisten brauchen Routine und Rituale.

Ingo Arzt

Nie zuvor hatte Brian gespielt oder gesprochen. Meist stand er nur den ganzen Tag am Fenster in seiner Schule für Kinder mit Lernschwierigkeiten im englischen Hertfordshire und starrte hinaus. Bis zu dem Tag, an dem Ben Robins von der University of Hertfordshire Kaspar mitbrachte. Kaspar steht für Kinesics and Synchronisation in Personal Assistant Robotics.

(Foto: Foto: University of Hertfordshire)

Kaspar ist ein Roboter. Brian berührte ihn und schaute ihm interessiert ins künstliche Gesicht, wenn Kaspar etwa die Augen und den Mund öffnete, um Erstaunen zu zeigen. Mehr als die Augen zu bewegen und zu schließen, zu blinzeln oder Mund und Arme zu bewegen, kann der Roboter mit dem Gummi-Gesicht noch nicht.

Eine Woche nach Brians erster Begegnung mit Kaspar kam Ben Robins wieder. Dann geschah es: Brian legte einem anderen Kind die Hände auf die Schulter, das mit dem Roboter spielte. "Die Lehrer und ich waren total erstaunt. Das erste Mal überhaupt hat Brian Kontakt mit einem anderen Kind aufgenommen", sagt Robins.

Roboter als Mediator

Brians Wandlung könnte viele Ursache haben, sagt der Informatiker und Tanztherapeut Ben Robins, der Kaspar mitentwickelt hat. Doch die Geschichte macht ihm Mut: Roboter könnten als Mediatoren dienen, die autistische Kinder dazu bringen, gemeinsam zu spielen.

Erst bei 13 Kindern hat er unter Absprache mit Eltern und Erziehern den Roboter allmählich in ihre Spiele-Rituale eingeführt, und ohne systematische Studien lasse sich noch nicht sagen, ob die Methode funktioniere, sagt Robins.

Ein Allheilmittel könne sie ohnehin nicht sein. Viel zu unterschiedlich sind Autisten. Die Mehrzahl ist geistig behindert, andere sind extrem intelligent oder haben erstaunliche Begabungen. "Inselbegabte" rechnen so schnell wie Computer oder lernen ganze Lexika auswendig, können sich aber einfache Dinge wie Gesichter nicht merken. "Vielleicht hat Brians Verhalten mehr Bedeutung als wir glauben. Auf jeden Fall ist es wert, weiter daran zu forschen", sagt Robins.

"Computer ist die Sprache der Autisten."

Er arbeitet im Rahmen des IROMEC-Projekts, das die EU mit über zwei Millionen Euro fördert. Psychologen, Pädagogen, Informatiker und Robotikexperten aus fünf verschiedenen Ländern forschen daran, wie Kindern mit psychischen oder kognitiven Entwicklungsstörungen durch Roboter als Spielzeug geholfen werden kann.

Für autistische Kinder lässt sich die Idee mit den Worten des britischen Psychologen Tony Attwood wiedergeben: "Computer ist die Sprache der Autisten." Computer reagieren immer gleich, systematisch und berechenbar, genau wie Kaspar, der Roboter.

Optimal für Autisten, denn sie brauchen Routine und verlässliche Rituale, sonst schützen sie sich durch Isolation. Wenn Menschen ihren Gesichtsausdruck verändern und sich hinter feinsten Nuancen Stimmungen und Signale verbergen, ist das ein bedeutender Teil zwischenmenschlicher Kommunikation.

Doch für Autisten ist ein lächelnder Mund nichts als ein Spalt zwischen zwei rötlichen Hautabschnitten, in dem sich Zähne befinden. Ein Stirnrunzeln ist eine Sammlung von Hautfalten und ein Gesicht eine Flut von Details ohne zusammenhängende Bedeutung. Oft werden sie als "seelenblind" bezeichnet.

"Jeder von uns, der lernt, mit euch zu sprechen, jede von uns, die lernt, in eurer Gesellschaft zu funktionieren, jeder von uns, der die Hand ausstreckt, um eine Verbindung zu euch herzustellen, bewegt sich auf außerirdischem Territorium und nimmt Kontakt zu außerirdischen Wesen auf", schrieb Jim Sinclair, Autist und Leiter des "Autism Network International" in einem berühmt gewordenen Aufsatz.

Der Roboter könnte Autisten auch helfen, den Kontakt mit den "Außerirdischen" grundlegend zu verändern, hofft Robins: Kaspar sieht aus wie ein Mensch, spricht aber mit seinen einfachen, vorhersehbaren Reaktionen die Sprache der Autisten. Auf ähnliche Weise lernen Autisten beim "Mindreading" menschliche Gesichtsausdrücke am Computer wie die Vokabeln einer Fremdsprache.

Wissen sie, wie Freude bei einem bestimmten Menschen aussieht, erkennen sie die gleichen Gesichtszüge an anderen Menschen aber oft nicht wieder. "Generalisierungsproblem" nennen Wissenschaftler das Phänomen.

Den Teufelskreis durchbrechen

"Daran beißen sich schon Generationen von Therapeuten die Zähne aus", sagt Claus Lechmann, Leiter des Autismus Therapie Zentrums Köln. Das Interesse an der Kommunikation mit Personen, erklärt er, wird nur indirekt über die Wünsche der Autisten geweckt: Ferngesteuerte Autos zum Beispiel faszinieren autistische Kinder. Wollen sie selbst damit spielen, müssen sie lernen, ein Wort zu sprechen oder dem Therapeuten zumindest eine Karte mit einem Auto darauf zu zeigen.

Extrem in sich Zurückgezogene mögen eher Bälle mit blinkenden Lichtern, die sich besonders anfühlen. Andere autistische Kinder interessieren sich eher für einen Bagger, andere ausschließlich für eine Eisenbahn.

Roboter könnten die Kinder durchaus ganz besonders anziehen, glaubt Lechmann. "Wir wissen noch nicht, wie der Roboter am Ende aussieht. Vermutlich wird er sehr modular sein", sagt Ben Robins - eine Art Bausatz, der auf jedes Kind unterschiedlich zugeschnitten werden kann.

Den Menschen als Bezugsperson ersetzen soll er nicht, sondern eben erst ermöglichen: Robins spielt mit den Kindern, indem er beispielsweise die Bewegungen des Roboters nachahmt. Sein bekanntes Verhalten macht es ihnen möglich, den Menschen wahrzunehmen und sich nicht wegen ungewohnter Reizüberflutung wieder in sich zurückzuziehen. "Später verstehen sie dann eventuell komplexeres menschliches Verhalten", sagt Robins. Der Teufelskreis der mangelnden Fähigkeit zur Generalisierung wäre durchbrochen.

Skepsis, ob Transfer gelingt

Die Wissenschaftlerin Beate Herpertz-Dahlmann ist bei solchen Hoffnungen sehr skeptisch. Die Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Aachen und Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirates des Bundesverbandes Autismus beobachtet bei jugendlichen Autisten mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie, welche Gehirnregion aktiv wird, wenn sie auf Menschen oder Dinge reagieren.

"Autistische Menschen mögen Figuren, das ist nicht neu. Der Transfer zum Menschen ist aber noch nie gelungen", sagt sie. So zeigten viele Autisten beim Anblick ihrer Lieblings-Comicfiguren die gleichen Reaktionen im Gehirn wie normale Menschen, wenn sie untereinander kommunizieren, sagt Herpertz-Dahlmann. Sobald die Autisten allerdings mit Menschen in Kontakt traten, sahen die Hirnaktivitäten gänzlich untypisch aus.

Robins hofft, einen geeigneten Partner zu finden, um seine Therapie-Idee in einer klinischen Studie zu überprüfen. Eine, die für Eltern mit schwer autistischen Kindern eine extreme Erleichterung wäre.

Autisten wie Jim Sinclair allerdings würden Worte wie "Therapie" oder "Krankheit" für sich nicht in Anspruch nehmen: "Es ist nicht möglich, den Autismus von der Person zu trennen - und wenn es möglich wäre, wäre die Person, die übrig bliebe, nicht dieselbe Person, die sie vorher war."

© SZ vom 11.7.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: