Flucht:SOS

Lesezeit: 3 min

Jeden Tag geraten auf dem Mittel­meer Menschen auf der Flucht in Seenot. Unsere Reporterin war mit an Bord eines Rettungsschiffs.

Von Sina Horsthemke

(Foto: Nicole Thyssen/SOS Humanity)

Runter, hoch, weiterreichen: Eine Kiste nach der anderen wandert von Hand zu Hand zu Hand, vom Lkw in den Schiffsbauch der Humanity 1 . In den Kisten sind Äpfel, Kohl, Kartoffeln, Zucchini, Wassermelonen, Reis, Zucker, Mehl und Linsen. Gewürze und Saft sind dabei, Kaffee, Tee, Öl und Kräuter. Was man eben so braucht in einer Küche, ähm, Kombüse. Und vor allem: viel davon. Denn keiner weiß, wie lange die Reise dauern wird.

Die blaugelbe Humanity 1 ist ein Rettungsschiff, das von der spanischen Küste quer durch das Mittelmeer in Richtung Nordafrika aufbrechen soll. Obwohl die Route steht, wird es eine Fahrt ins Ungewisse. Denn was Kapitän Josh und seine 28 Crewmitglieder vorhaben, lässt sich schwer planen. Wie lange werden sie unterwegs sein? Wie vielen Menschen helfen können? Welche Häfen ansteuern dürfen? Alles unklar.

Packen für eine Fahrt ins Ungewisse: Die Crewmitglieder bilden einen Menschenkette, um Vorräte an Bord zu schaffen. Niemand weiß, wie lange sie halten müssen. (Foto: Nicole Thyssen/SOS Humanity)

Das Schiff sticht für die Berliner Organisation SOS Humanity in See. "Humanity" ist Englisch und bedeutet Menschlichkeit. Das Schiff heißt so, weil im Mittelmeer Unmenschliches geschieht: Jede Woche ertrinken Menschen bei dem Versuch, auf kleinen Booten von Afrika nach Europa zu fliehen. Schon mehr als tausend allein in diesem Jahr. Wie viele genau, weiß niemand. Dass die Flucht lebensgefährlich ist, wissen die Menschen. Sie brechen trotzdem auf - weil in ihrer Heimat Krieg herrscht, weil es nicht genug zu essen gibt, weil sie gefoltert und verfolgt werden. Aber auf der langen Fahrt nach Europa geraten viele in Seenot. Manchen geht der Treibstoff aus, anderen läuft Wasser ins Boot oder sie verlieren in den Wellen die Orientierung.

Fast zwei Wochen später, Hunderte Seemeilen südöstlich, vor der afrikanischen Küste, kurz vor Mitternacht: Hektik bricht an Bord der Humanity 1 aus. Sie haben ein Holzboot entdeckt, halb zur Seite gekippt, voller Menschen. Jetzt muss es schnell gehen. Die Helfer haben das oft geübt: Schwimmwesten an, die gelben Helme auf, jeder Handgriff sitzt. Ein Kran lässt zwei Schnellboote ins Wasser, Tango und Bravo. Sich direkt mit der 61 Meter langen Humanity 1 zu nähern, wäre viel zu gefährlich: Ihre Bugwelle könnte das kleine Holzboot ganz umschmeißen.

Die Bugwelle der „Humanity 1“ wäre gefährlich für die kleinen Boote. Deshalb kommen Retter sie mit kleinen Schnellbooten. (Foto: Max Cavallari)

"Wir sind aus Europa und helfen euch!", brüllt einer aus der Crew gegen den Lärm der Motoren. Die Schiffbrüchigen sitzen dicht gedrängt auf dem Holzboot, Furcht in den Gesichtern. Einer aus der Crew erklärt auf Arabisch, was jetzt wichtig ist: Dass Schwimmwesten verteilt werden, sie einzeln zu ihnen aufs Boot kommen sollen, dass sie mehrmals werden fahren müssen. Dass alle gerettet werden. Und bitte Ruhe bewahren!

Das Meer ist nicht die einzige Bedrohung für die Menschen auf dem Holzboot. Sie haben auch Angst, von libyschen Kontrollschiffen entdeckt zu werden. Statt zu helfen, bringen die Geflüchtete zurück nach Afrika, wo sie oft wie Verbrecher im Gefängnis landen.

Sieht aus wie ein Glitzerrock, ist aber eine Rettungsdecke. Die hält warm, denn die Kälte und Nässe auf dem Meer setzt vielen Geflüchteten schwer zu. (Foto: Nicole Thyssen/SOS Humanity)

Es dauert eine Weile, bis alle eine der orangefarbenen Westen übergestreift haben. "Sind Kinder bei euch? Schickt sie zuerst!" Anila, 11, ist das einzige Kind in dem Holzboot. Vorsichtig klettert sie auf den rutschigen Bug. Zwei Helfer strecken ihr die Hände entgegen. Sie zögert. Unter ihr gurgelt das pechschwarze Wasser. Dann greift sie nach den Händen und springt auf das Motorboot. Zitternd vor Kälte und Erschöpfung bricht das Mädchen zusammen, schluchzt immer wieder: "Mariam! Mariam!"

Es dauert ein bisschen, bis klar wird, wen sie meint: Ihre große Schwester, Mariam, die auf sie aufpasst, seit sie Syrien verlassen haben, ist noch auf dem Boot, während sie mit Tango zu dem großen Schiff gebracht wird, dessen Lichter entfernt in der Dunkelheit leuchten. Viele Male sausen Tango und Bravo hin und her. Die ganze Aktion dauert fast drei Stunden. Am Ende sind alle 49 Menschen an Bord der Humanity 1, auch Mariam. Die Geflüchteten bekommen Decken, Wasser und Essen. Es befinden sich nun 261 Überlebende von vier Booten an Bord, darunter fast 30 Kinder und Babys.

Seit August 2022 hat die Crew 924 Menschen gerettet. Dafür werden die Helfer nicht nur gelobt, sondern auch kritisiert. Begeben sich mehr Menschen in Lebensgefahr, weil sie hoffen, gerettet zu werden? Befördern die Rettungsschiffe das Geschäft von skrupellosen Schleppern, die Menschen für viel Geld auf zu kleinen und kaputten Booten losschicken? Eine Studie der Universität Oxford zeigt: Nein. Mehr Rettungsschiffe führen nicht zu mehr Fluchtversuchen. Die Retter sind eine Reaktion auf die vielen Toten im Meer - nicht umgekehrt.

An Bord ist es eng und schwierig: Die Menschen sind erschöpft und verängstigt. Sicher, sie sind vor dem Ertrinken bewahrt. Aber wie geht es jetzt weiter? In Europa erwarten sie Camps, Behörden, Papierkram, Willkür und politischer Streit. Am Ende werden manche von ihnen ein neues, friedlicheres Leben beginnen können. Aber andere werden zurückgeschickt an die Orte, vor denen sie unter Lebensgefahr geflohen sind. Wer kommt wohin?

Rescue bedeutet auf Englisch Rettung. Die gibt es aber leider nicht für alle. Jedes Jahr ertrinken Tausende Menschen auf der Flucht im Mittelmeer. (Foto: Nicole Thyssen/SOS Humanity)

Kinder wuseln über das überfüllte Schiffsdeck der Humanity 1. Sie spielen, lachen, reden. Sie sind erst mal gerettet. Und sie wissen nichts von den Sorgen ihrer Eltern.

© SZ vom 20.05.2023 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: