Flucht:Mitgenommen

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(Foto: privat)

Wer flüchtet, muss oft fast alles zurücklassen. Hier erzählen Kinder und Jugendliche, was sie trotzdem retten konnten. Diesmal: Enajat, 15, aus Afghanistan. Er war ein halbes Jahr auf der Flucht und lebt seit drei Wochen in München.

Protokoll: Kathrin Schwarze-Reiter

"Manchmal fasse ich mir an den Hals und spüre die Kette in meiner Hand. Ich streiche gerne mit den Fingern darüber, weil die Metallglieder so schön glatt sind. Die Kette ist das Wertvollste, was ich besitze. Meine Mutter hat sie mir umgelegt, als ich in unserem Dorf in Afghanistan aufgebrochen bin. Etwa ein halbes Jahr war ich unterwegs, bin von Afghanistan über den Iran und die Türkei bis nach Deutschland geflüchtet. Ich bin gegangen, weil es meiner Familie in Afghanistan sehr schlecht geht. Oft wussten wir nicht, was wir am nächsten Tag essen werden. Außerdem haben wir Angst vor den Taliban, weil sie meine Volksgruppe, die Hazara, verfolgen. Unter ihrer Herrschaft konnten meine Geschwister und ich nicht mehr zur Schule gehen. Ich habe drei Schwestern und drei Brüder. Obwohl ich nicht der älteste Sohn bin, wurde ich für die Flucht ausgewählt. Es hat meine Familie sehr viel Geld gekostet, mich auf diese Reise zu schicken und Leute dafür zu bezahlen, mir zu helfen und mich über die Grenze zu bringen. Als ich mich von meiner Mutter verabschiedet habe, hat sie mir gesagt, dass sie mich sehr liebt, aber mich gehen lassen muss. Damit ich ihnen helfen kann, zu überleben. Ich liebe meine Mutter sehr. Früher hat sie mir oft mein Lieblingsessen in die Schneiderei gebracht, in der ich gearbeitet habe. Es heißt Qabili Palao, das ist Reis mit Lammfleisch. Wenn ich nun die Kette in der Hand halte, muss ich oft weinen. Jetzt bin ich zwar in Deutschland und in Sicherheit, aber ich fühle mich sehr alleine. Und es tut so weh zu sehen, was mit meiner Heimat passiert. Vor allem jetzt im kalten Winter geht es den Menschen dort sehr schlecht, sie frieren und haben Hunger. Ich friere auch, weil ich keine warmen Klamotten für den Winter habe. Oder ein Handy, um meiner Familie zu sagen, dass ich gut angekommen bin. Im Moment lebe ich in einem Heim für geflüchtete Jugendliche. Ich hoffe, dass ich bald zur Schule gehen kann. Auch wenn es gerade schwer ist, wird sicher alles irgendwie gut. Vielleicht ist die Kette ja ein Glücksbringer?"

© SZ vom 24.12.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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