Gemeinsam mit Tochter Isabel, einer ehemaligen Fitnesstrainerin, Physiotherapeutin und praktizierenden Ärztin, hat Hans Bloss den Ratgeber "Fit ohne Sport - Ihr Alltag ist Training genug" geschrieben. Darin erklärt der emeritierte Professor für Sportwissenschaften die Appelle seiner Kollegen - "Treibt mehr Sport" - für falsch. Sport ist Mord - diesen Satz würde Bloss dagegen sofort unterschreiben.
sueddeutsche.de: Ihr Buch muss ein großer Erfolg sein - es ist schließlich die ärztlich bescheinigte Entschuldigung für 80 Prozent aller Deutschen, keinen Sport zu treiben.
Hans Bloss: Ja, wir können tatsächlich auf Sport im Leben verzichten. Sportwissenschaftler und Sportler sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht, wenn sie uns täglich zu mehr Sport auffordern. Denn viele Menschen haben mit Sport einfach nichts im Sinn. Gerade einmal 20 Prozent der Deutschen bewegen sich in ihrer Freizeit freiwillig.
sueddeutsche.de: Warum sind wir ausgewiesene Bewegungsmuffel?
Bloss: Das hat mehrere Gründe. Manche Menschen bewegen sich von Natur aus nicht gern - das liegt in den Genen. Weiterhin hängt es von unserer Sozialisation ab: Sind die Eltern mit ihrem Kind zum Tennis gefahren oder haben sie über Sport geschimpft? Später kommen häufig negative Erfahrungen im Schulsport dazu. Bis zum 13. Lebensjahr ist Sport oft das beliebteste Schulfach. Danach verlieren viele Unbegabtere die Lust; nur die von Natur aus Sportlichen bleiben freiwillig bei der Stange. Im Berufsleben spielt mangelnde Motivation eine Rolle. Denn der Alltag ist häufig stressig genug. Sport ist etwas für Privilegierte, für Singles oder Fitnessfanatiker. Wer hat schon die Zeit, mehrmals wöchentlich zwei Stunden ins Fitness-Studio zu gehen oder jeden Abend anderthalb Stunden zu joggen? Aus diesen Gründen plädieren wir für intensive und kreative Alltagsbewegungen. Denn auf Bewegung können wir nicht verzichten!
sueddeutsche.de: Wie bewegt man sich denn kreativ und intensiv durch den Alltag?
Bloss: Zuallererst lassen wir den Aufzug stehen - und nehmen die Treppe. Und zwar sollte man die Treppe bewusst gehen: mit mehr Schwung und flotter als gewöhnlich. Dadurch wird die Ausdauer trainiert. Auch lästige Hausarbeiten wie Bettenmachen kann man ganz leicht zum kleinen Krafttraining für Arme und Rückenmuskulatur umwandeln: Schütteln Sie auf dem Balkon acht bis zehn Mal kräftig die Bettwäsche aus - das werden Ihre Muskeln spüren. Wichtig ist, dass man sich die Bewegungen bewusst macht - das hat auch der Zimmermädchen-Versuch gezeigt.
sueddeutsche.de: Was hat man mit den Zimmermädchen angestellt?
Bloss: In sieben US-amerikanischen Hotels wurde eine Gruppe von 82 Zimmermädchen im Alter von 30 bis 60 Jahren folgendem Versuch unterzogen: Die eine Hälfte der Probandinnen hat ihre körperlich anspruchsvolle Arbeit wie immer ausgeführt. Die anderen Frauen hat man aufgefordert, beim Bettenmachen, Staubsaugen und Badputzen daran zu denken, dass sie mit diesen Tätigkeiten etwas für ihre Fitness tun.
sueddeutsche.de: Und sie haben sich gleich viel sportlicher gefühlt?
Bloss: In der Tat haben sich die Frauen, die sich bewusst bewegt haben, nach vier Wochen gesünder gefühlt. Aber die Versuchsergebnisse gingen über das rein subjektive Empfinden hinaus: Nach weiteren acht Wochen hat man die Gesundheitswerte - Blutdruck und Cholesterin - gemessen und festgestellt, dass sie sich verbessert haben. Das mentale Training scheint also muskuläre Prozesse auszulösen. Deshalb ist bewusste Bewegung das richtige Fitnessprogramm für all jene, die sich für sportlich untalentiert halten und für die Sport zusätzlicher Stress und Leistungsdruck bedeutet.
sueddeutsche.de: Wann ist ein Mensch nach Ihrer Einschätzung fit?
Bloss: Es gibt rundum gesunde Menschen, die aber schlapp sind. Und es gibt chronisch Kranke, Diabetiker zum Beispiel, die fit genug für einen Marathon sind. Fitness ergibt sich aus der Trias Bewegung / Ernährung / Entspannung. Täglicher Sport ist häufig kontraproduktiv. Wer jeden Tag anderthalb Stunden joggt, verfällt nicht selten in zusätzlichen Stress. Und: Er kann sicher sein, dass er im Alter an Arthrose leidet. Habermas bezeichnete Sport als "die Verdopplung von Arbeit". Und davon wollen wir weg. Deshalb empfehle ich Menschen, die in ihrer Mittagspause über einen Fitness-Parcours hetzen, lieber eine Stunde im Bürostuhl zu schlafen - für die Entspannung. Optimal wäre natürlich, die Zeit für eine Gehpause zu nutzen.
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sueddeutsche.de: Wie bewegt man sich denn richtig?
Bloss: Eine ausbalancierte Fitness setzt sich zusammen aus Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit. Wenn jemand nur joggt, trainiert er einseitig seine Ausdauer. Das lässt sich auch auf die bewusste Alltagsbewegung übertragen: Gehen Sie drei Mal die Woche zügig spazieren - das fördert Ihre Ausdauer. Mit Gartenarbeit trainieren Sie Kraft und Beweglichkeit, Fenster putzen regt den Kreislauf an und stärkt die Schultern, am PC tippen fördert immerhin die Koordination. Wenn Sie auf dem Heimweg eine Bahnstation früher aussteigen und die letzten zwei Kilometer zu Fuß gehen, haben Sie bereits etwas für Ihre Fitness getan.
sueddeutsche.de: Zu Fuß zum Briefkasten gehen, Treppen steigen - das klingt aber alles nicht neu ...
Bloss: Dennoch muss man die Wahrnehmung schärfen. Selbst in den großen Sportkaufhäusern finden Sie nur noch Rolltreppen, und in Hotels wird einem sofort der Weg zum Aufzug gewiesen. Suchen Sie mal eine Hoteltreppe - meist finden Sie die hinter dem dunklen Notausgang. Und dort trifft man bestenfalls das Personal an.
sueddeutsche.de: Kann man denn ohne Sport abnehmen?
Bloss: Selbstverständlich. Der Königsweg lautet: Etwas weniger essen und etwas mehr bewegen. Wenn Sie 30 Minuten flott spazierengehen, baut der Körper 150 bis 200 Kilokalorien ab. Zusätzlich essen Sie 200 Kalorien weniger am Tag. Das geht ganz leicht - ohne Selbstkasteiung! Auf diese Weise nehmen Sie innerhalb eines Jahres 15 Kilogramm ab - und zwar Kilos, die nicht wiederkommen. Diäten bringen nichts.
sueddeutsche.de: Würden Sie den Satz unterschreiben "Sport ist Mord"?
Bloss: Ja, wenn wir vom einseitigen beziehungsweise Leistungssport sprechen. Es gibt zwei Welten des Sports: Die des Leitungssports, der dem Geldverdienen gilt und mit Showkampf und Doping einhergeht. Es kommt immer wieder vor, dass sowohl Freizeitsportler als auch Profisportler beim Trainieren tot umkippen, weil das Herz-Kreislauf-System überlastet ist. Oder aber sie leiden im Alter garantiert unter kaputten Gelenken. Der Mensch ist für intensiven Sport nicht gebaut. Wir wollen den anderen, den sanften Gesundheitssport - es soll um die Freude an der Bewegung und das spielerische Moment gehen. Leider werden heute ja schon die fünfjährigen Jungs beim Fußballspielen auf Leistung getrimmt - und verlieren später die Motivation.
sueddeutsche.de: Aber Tennisspielen mit dem Freund und Fußballspielen im Team kann doch auch Spaß machen. Kommt die soziale komponente des Sports in ihrem Konzept nicht zu kurz?
Bloss: Die bewusste Alltagsbewegung kann auch soziale Spielformen haben - fordern Sie Ihre Kollegen nach dem Essen zu einem kleinen gemeinsamen Spaziergang auf. Die Hausfrau kann sich am Abend zum gemeinsamen Spazierengehen oder auch Walking verabreden. Die Bewegung kann durchaus in sanften Gesundheitssport überleiten. Wichtig ist nur: Die Bewegung muss uns ein Leben lang begleiten, so wie das tägliche Zähneputzen. Und eben das tut Sport häufig nicht: Viele setzen sich mit 50 oder 60 sportlich "zur Ruhe" - weil sie den Körper durch exzessives Training ruiniert haben.
Hans und Isabel Bloss: Fit ohne Sport - Ihr Alltag ist Training genug. Droemer Knaur Verlag, 14,90 Euro.