Familienfoto (2): Japan:Wettlauf ums Karrierekind

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In Japan widmen sich viele Mütter mit Leib und Seele ihren Kindern. Mütter, die allerdings arbeiten, obwohl sie nicht müssten, gelten als Egoistinnen.

Christoph Neidhart

Tokio - Yuki und Yoko sind beide fünf Jahre alt, es sind aufgeweckte kleine Mädchen, nach japanischen Maßstäben fast frech. Beide wohnen in Setagaya, einem eher wohlhabenden Stadtteil Tokios. Und beide gehen in den Kindergarten. Doch da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Denn Yuki und Yoko trennt eine ganze Welt: ihr Kindergarten. Yuki geht in einen sogenannten "Yochien", Yoko in den "Hoikuen".

Abhärtung gehört zur Erziehung: In japanischen Kindergärten müssen die Kleinen auch schon mal bei extremer Kälte draußen ohne Hemd turnen. (Foto: Foto: AFP)

Zugegeben, der flüchtige Betrachter erkennt zwischen den beiden Kindergärten erst einmal kaum Unterschiede. Dabei sind diese immens: Zum einen klaffen die Lebenswege, die den jeweiligen Absolventen mit der Wahl ihrer Vorschul-Bildung vorgezeichnet sind, weit auseinander; und zum anderen gehen die beiden Kindergarten-Arten von grundlegend unterschiedlichen Familienmodellen aus.

Yukis Tag sieht so aus: Sie wird schon sieben Uhr morgens in ihren Hoikuen gebracht und bleibt dort bis in den Abend. Hoikuen-Kinder werden nach strengen Regeln bekocht, ihre Eltern erhalten zudem Merkblätter, auf denen steht, was die Kinder abends essen sollen - viel Fisch, Seetang, Gemüse - und was nicht: Zuckerzeug. Kein Wunder: Hoikuen unterstehen dem Gesundheits- und Sozialministerium.

Dass es hier eher arbeitsam, gesund und nicht sehr mondän zugeht, rührt aus der Geschichte des Hoikuen: Er wurde Ende des 19. Jahrhunderts geschaffen, als immer mehr Frauen in den Fabriken arbeiten gingen. Mit dem Hoikuen-Kindergarten holte man die Kinder der Arbeiterinnen von der Straße. Er wird daher oft betrieben wie eine Art Sozialdienst, der dazu neigt, die Eltern zu bevormunden - oder, wie es offiziell heißt, sie "in ihrer Sorge für die Kinder zu unterstützen".

Dieser sozialfürsogerische Ansatz zielt auch heute noch auf die Eltern, die ihre Kinder in einen Hoikuen geben. Yukis Vater etwa ist Schreiner und Fahrer, ihre Mutter Bürokraft. Die Väter der Freundinnen von Yuki sind Frisöre oder , die Mütter Kranken- und Alten-Pflegerinnen.

Nobles Frühstück

Das Leben von Yoko sieht anders aus, ganz anders - und es bringt ihr schon in früher Jugend einen großen Vorsprung im Kampf um Karriere und Erfolg ein. Yoko kann morgens länger ausschlafen, sie geht erst um neun in den Yochien. Yokos Mutter holt die Kleine dann, je nach Wochentag, kurz vor dem Mittagessen oder kurz danach ab. An jenen Tagen, an denen Yoko im Kindergarten isst, muss ihr die Mutter ein sogenanntes Bento mitgeben - eine mit Süßigkeiten und bunten Leckereien gefüllte Lunchbox. Die Kinder vergleichen ihre Bentos, die Mütter wetteifern, wer die populärsten Brotzeiten macht.

Yokos Yochien untersteht dem Erziehungsministerium. Er entstand zur gleichen Zeit wie der Hoikuen, aber zu einem völlig anderen Zweck: Als Japan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Schulsystem nach europäischem Muster aufbaute, erfand man den Yochien, um die Kinder der sozialen Eliten auf ihr Leben als Teil dieser Elite vorzubereiten.

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Im Yochien wird deshalb schon früh unterrichtet, die Kinder lernen ihre ersten Schriftzeichen. Hier sind die meisten Väter sogenannte "Salarymen", Männer mit guter Ausbildung, die sich an ihre Firma regelrecht verdingt haben - nach stiller Übereinkunft für ein ganzes Berufsleben. Dafür verdienen sie gut und erklimmen, langsam und stetig, die Karriereleiter. Zu den ungeschriebenen Pflichten des Salarymen gehört es, dass er seinen Arbeitsplatz nicht verlässt, bevor der Chef Schluss macht, selbst wenn alles getan ist. Nach Büroschluss muss er mit seinen Kollegen etwas trinken gehen. Viele Salarymen kehren erst nach Hause zurück, wenn ihre Kinder längst schlafen. Ihren Nachwuchs sehen sie höchstens ab und zu in der Früh oder mal am Wochenende.

Doch dafür widmen sich die Yochien-Mütter mit Leib und Seele ihren Kindern; sie betrachten das als Ganztagsjob. Anders als etwa in Deutschland, wo Vollzeitmütter sich immer wieder rechtfertigen müssen, dass sie "nicht arbeiten", ist es in Japan für Frauen nach wie vor durchaus ehrenvoll, auf die Frage: "Und was machen Sie so?" sagen zu können: "Ich bin Hausfrau und Mutter." Vom Kindergarten werden sie für Ausflüge, Sport- und Spieltage eingespannt.

Nach dem Yochien fahren die Mütter ihre Kinder in Kurse und zum Sport. Yoko zum Beispiel nimmt Englisch-Unterricht, seit sie vier Jahre alt ist, sie absolviert Klavierstunden, einige ihre Kameradinnen besuchen Ballettklassen und Schwimmunterricht, Kleinkind-Karate oder Volkstanz. Zwei Mal pro Woche hat Yoko "Kumon", eine Art Kinder-Abendschule, in der Englisch, Japanisch und Rechnen unterrichtet werden. Der "Kumon" gibt den Fünfjährigen auch bereits Hausarbeiten auf.

Für Taxidienste vom Yochien ins Karate und vom Ballett ins "Kumon"haben die meist berufstätigen Hoikuen-Mütter keine Zeit, überdies summieren sich die Kosten für diese Kurse. Entweder springt die Großmutter ein, oder das Kind verzichtet. Deshalb haben viele Yochien-Kinder schon bei der Einschulung einen schulischen Vorsprung.

Zudem stellen die meist privaten Elite-Schulen ihre Schulklassen aufgrund von Führungsberichten aus dem Yochien und Interviews mit den Eltern zusammen. Yokos Eltern zum Beispiel sind schon drei Mal zum Gespräch in die Grundschule ihrer Wahl bestellt worden. Die Mutter ist etwas besorgt über Yokos Eigensinn, das Kind ordnet sich nur ungern ein.

Yochien-Eltern verkörpern jenes bürgerliche Familienideal, das Japan gleichzeitig mit den westlichen Schulstrukturen vor etwas mehr als hundert Jahren importiert hat. Zuvor galten Mütter in Japan als regelrecht unfähig, für die Erziehung ihrer Kinder zu sorgen; vor allem die Erziehung der Söhne traute man den Frauen nicht zu. Männliche Erzieher übernahmen diese Aufgabe. Mit der Übernahme des europäischen Familienbildes aus dem 19. Jahrhundert in Japan bekamen die Frauen auch die Erziehungsaufgabe daheim übertragen; Yochien-Mütter sind darauf bis heute stolz.

Die Vorurteile gegen Hoikuen-Kinder haben sich dementsprechend erhalten, auch wenn die reine Leere im Hoikuen nur noch selten praktiziert und auch hier mittlerweile auf vorschulische Bildung Wert gelegt wird. Vor allem ältere Japaner glauben aber immer noch, Hoikuen-Kinder seien zu bedauern, weil ihre Eltern es sich nicht leisten können, dass die Mutter zuhause bleibt. Mütter, die arbeiten, obwohl sie nicht müssten, weil die Arbeit ihnen gefällt, gelten als Egoistinnen.

Rabenmütter allerorten

In Yukis Hoikuen sind die meisten Frauen auf ihr Einkommen angewiesen, damit die Familie überleben kann - so auch Yukis Eltern. Sie hätte gerne ein zweites Kind, sagt Yukis Mutter, "aber wir können uns das nicht leisten."

Japans importiertes Familienideal bricht freilich auf. Etwa ein Drittel der jungen Leute findet heute keine feste Stelle mehr - nicht etwa, weil es keine Arbeit gibt, sondern weil japanische Firmen immer mehr Menschen in Kurzzeit-Verträgen und damit als Verschiebemasse beschäftigen, die sie jederzeit loswerden können.

Diese Arbeitnehmer erhalten keine Bonus-Prämien, was ein wichtiger Teil eines japanischen Gehalts ist, sie bekommen kaum Sozialleistungen und haben daher keine Job-Sicherheit; sie könnten morgen schon auf der Straße stehen und damit aus trotz ordentlicher Ausbildung aus der Mittelklasse-Gesellschaft, die Japan so gern sein möchte, herausfallen. Zum Heiraten und Kinderkriegen ist das keine gute Voraussetzung. Paare, die es trotzdem wagen, bekommen neben ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten oft auch persönliche, die Familie geht unter dem wirtschaftlichen Druck einer neuen Armut kaputt.

All das wirkt sich auch auf die Kindererziehung aus: Während manch ein moderner Yochien der kleinen Yoko ihren Eigensinn als Individualismus ausgelegen könnte, würde die kleine Yuki, die genauso starrsinnig und trotzig sein kann wie ihre Freundin Yoko, in einem traditionellen Hoikuen immer noch als unangepasst beurteilt. In den Augen vieler Japaner aber ist unangepasst soviel wie asozial bedeutet - und das kann auf die ganze Familie zurückfallen. Nicht nur auf den Kindergarten.

© SZ vom 29.07.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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