Englisches Essen?:Fürchtet euch nicht

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Ruinierte Fische und frittierte Schokoriegel? Ach was! Man fasst es nicht: Die Engländer haben kochen gelernt.

Philip Oltermann

Es ist halb zehn Uhr morgens. In einer Küche im Londoner Szenestadtteil Clerkenwell steht Chris Gillard am Tresen und zerlegt ein Schwein. Behutsam fährt er mit einem scharfen Messer durch die Muskelstruktur und trennt Fett von Fasern. Um acht Uhr morgens lieferte ein Metzger aus Bristol das tote Tier, seither wird es zerlegt. Hinter Gillard stehen drei schlaksige Typen mit Philippe-Starck-Brillen und weißen Schürzen, die ihm erwartungsvoll über die Schulter schauen, so als warteten sie auf das Ergebnis eines wissenschaftlichen Experiments.

Für Fish & Chips sind die Engländer berühmt. (Foto: Foto: iStockphotos)

Der 33-jährige Chris Gillard ist der Chefkoch von St. John, dem wohl einflussreichsten englischen Restaurant der vergangenen zehn Jahre. Gegründet 1994 von dem Architekten Fergus Henderson, erkochte sich St.John innerhalb weniger Jahre einen Ruf - für gute Hausmannskost und eine ungewöhnliche Zubereitungsphilosophie.

"Nose to tail cooking" war Hendersons Motto: Das Schwein, das am Wochenanfang geliefert wurde, sollte hier so gründlich ausgeschlachtet werden, dass es bis zum Wochenende reichte. Auf dem täglich wechselnden Menü standen neben Schweinemedaillons und Koteletts auch Kutteln, warmer Schweinskopfsalat, Blutkuchen (,,eine Art fleischiger Schokoladenpudding'', erklärt Gillard) oder Knochenmark auf Vollkornbrot.

Besonders das letzte Gericht behielt einen gewissen Ekelfaktor, fand aber unerwarteten Anklang: Der New Yorker Promi-Gourmet Anthony Bourdain warf sich nach einer Kostprobe vor die Füße der Küchenmannschaft und attestierte, er hätte noch nie so etwas Feines gegessen. Der Guardian nannte St.John 2005 eines der zehn besten Restaurants der Welt, Großbritannien feierte Henderson als Volkshelden. Heute, wie fast jeden Abend, ist das Restaurant ausgebucht - und der Ableger an der Brick Lane ebenso.

An den im Kantinenstil zusammengeschobenen Esstischen sitzen Designer neben Bankern, Models neben Vorstadtfamilien, und warten auf das Essen, das minimalistisch, aber noch immer ein bisschen gruselig anmutet. Heute gibt es Fenchel mit Berkswell-Schafskäse, Taube mit Mangold und geschmortes Lämmerherz mit Kohlrüben. Jeden Mittwoch, sagt Gillard, kommt ein Vegetarier-Ehepaar. Am Schweinekadaver, der stets sichtbar ist, stört es sich angeblich nicht.

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Deutsche Kritik an englischer Küche

Angeblich schmeckt's hier: St.Johns in London (Foto: Foto: www.stjohnrestaurant.com)

Nur die Deutschen rümpfen ihre Nasen: Wolfram Siebeck besuchte das Restaurant für eine Rezension in der Zeit und fand das Menü ,,nicht erwähnenswert''. Das klingt arrogant, hat aber durchaus Tradition. Macht sich eine englische Boulevardzeitung einmal über ,,typisch deutsche'' Eigenschaften lustig, spielt man hierzulande gerne das Opfer. Geht es aber umgekehrt um die Kochkünste der Briten, wird fröhlich in die Klischeekiste gegriffen - jüngst Ende Januar, als der britische Schulminister Ed Balls bekanntgab, dass die Regierung Kochkurse an Schulen einführen wolle. Tenor in der deutschen Presse: Sollen die Angelsachsen nur schön kochen lernen - essen wollen wir das aber bitte nicht.

Freilich, ganz unbegründet ist das Vorurteil nicht. Schon Friedrich Engels berichtete um 1840 mit Entsetzen über katastrophale Zustände in englischen Küchen: In den Arbeitervierteln von Manchester gab es zum Abendbrot gammelige Kartoffeln, verwelktes Gemüse und ranzigen Schinken. Essen aus der Dose, in Deutschland eher ein Symbol der sparsamen Nachkriegsjahre, genoss auf der Insel viel früher Beliebtheit. Schon vor dem Ersten Weltkrieg war Großbritannien der weltweit eifrigste Dosenimporteur: Bis zu 60Prozent der Nahrungsmittel kamen aus der Konserve. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts änderte sich wenig. Großbritannien, die Arbeiternation, aß auch so: ,,Ready Meals'' von Marks&Spencer oder ,,Takeaways'' vom Inder um die Ecke bestimmten die Hauptmahlzeiten. Für ,,Slow Food'' hatte man keine Zeit.

Durch Schüleraustauschprogramme erfuhren junge Deutsche das, was von der englischen Küche übriggeblieben war, am eigenen Leibe. Man hörte Horrorgeschichten von wächsernen Kartoffeln und schleimigen Bohnen, aus Schottland kamen Schauermärchen über gefüllte Schafsmägen (,,Haggis'') und frittierte Mars-Riegel. Manch einer machte Erfahrungen mit ,,Chicken Kievs'', ,,Pork Scratchings'' oder ,,Turkey Twizzlers'', und bat die Eltern um die Zusendung von Vollkornbrot, Kohlrabi und Lakritze.

Das Hauptproblem der englischen Esskultur lag in der Würzung der Speisen, oder besser gesagt, der Abwesenheit jener Würze. Schlimmer noch: Oft versuchten die Köche, ihre Defizite mit konservierten Aromabomben wie Marmite, Colman's Mustard, HP Sauce oder Branston Pickle auszugleichen. Für deutsche Geschmäcker war allein die Zugabe von Essig bei Fish&Chips akzeptabel. Andere Kombinationen - Lammkotelett mit Pfefferminzsoße oder Schweinehaxe mit Apfelmus - empfand man oft als pervers. Nicht selten sind Schmährufe über englisches Essen nichts als billige politische Munition: So suggerierte etwa Jacques Chirac auf einem EU-Gipfel 2005, dass man einem Land, das so schlecht koche wie Großbritannien, auch in politischer Hinsicht nicht trauen könne.

Änderung auf dem Speiseplan

Dabei hat sich das englische Essen in den letzten zehn Jahren drastisch verändert. Was heute in Küchen auf der Insel passiert, erscheint vielen Feinschmeckern spannender als das, was die besten Küchen Frankreichs zu bieten haben. Dass man in London besser Sushi isst als in Tokio, wissen viele. Traditionelle englische Gerichte sind leider wenig bekannt. Das ist ein Jammer, denn allein mit dem Nachspeisen-Buffet spielt England den Rest Europas locker an die Wand: Da gibt es wunderbar flockige Backwaren wie ,,Eccles Cake'' oder klebrig-süße Teigschnecken wie ,,Jam Roly-Poly''.

Serviert werden Letztere in der Regel mit einer großzügigen Kelle ,,Custard'', einer Art flüssiger Vanillepudding, der in Frankreich ,,Crème Anglaise'' genannt wird. Auch eine Versuchung wert: ,,Scones'' (man sagt ,,Skonns'', nicht ,,Skohns'') mit reichlich Marmelade und ,,Clotted Cream'' aus Cornwall. Englische Nachspeisen (im Volksmund ,,Puddings'' oder ,,Puds'' genannt) erfreuen nicht nur den Gourmet, sondern auch den Dichter in uns:

Gibt es ein schöneres Wortbild als den ,,Sussex Pond Pudding'', eine Kreation aus Mehl, Butter, braunem Zucker und Zitronensaft, mit einem flüssigen Inneren, das sich nach dem ersten Löffelstich auf den Teller ergießt und den Pudding wie einen friedlichen Dorfteich umrahmt? Oder den ,,Eaton Mess'' aus Baiser, Schlagsahne und frischen Früchten, der ein Lied zu singen scheint von Sommertagen auf adeligen Landsitzen. Leichte Nachspeisen heißen oft ,,Trifles'' oder ,,Fools'', also Nichtigkeiten und Dummerchen. Unerwähnt bleiben darf auch nicht der ,,Fat Rascal'', der fette Frechdachs: eine Art Scone, gespickt mit Mandeln und getrockneten Früchten, erhältlich im Teehaus ,,Bettys'' in York.

Auf der nächsten Seite geht's weiter mit dem Umschwung in der englischen Küche.

Nationalgerichte auf der Insel

Das englische Äquivalent zu unserem Weihnachtsstollen, die ,,Mince Pie'', löst in Deutschland oft Verwirrung aus, enthält jene kompakte Pastete doch weder Minze noch ,,Minced Beef'' (Hackfleisch). ,,Mincemeat'' ist paradoxerweise die gängige Bezeichnung für eine kandierte, in Brandy getränkte Frucht-Nuss-Mischung. Natürlich gibt es die englischen Pasteten auch mit Fleisch. Fachgerecht zubereitet, mit Steak und einem Schuss Guinness, verdient sich die ,,Pie'' durchaus den Vergleich mit einer italienischen Lasagne.

Europas Kinder verspotten sich gerne gegenseitig wegen ihrer Nationalgerichte. Dass die Briten von den Franzosen als ,,Les Rosbifs'' beschimpft werden, wird auf der Insel jedoch eher als Kompliment verstanden - denn auf kein Gericht ist man hier stolzer als auf den ,,Sunday Roast'', der von vielen Familien am Wochenende zu Mittag verzehrt wird. Herzstück des ,,Roasts'' ist Roastbeef, manchmal aber auch Lamm, Schwein oder Moorhuhn, das nicht auf dem Grill geröstet, sondern im Ofen gebraten wird. Dazu gibt es Gemüse, Bratkartoffeln, Soße und ein Eierkuchenteiggebäck namens ,,Yorkshire Pudding''. So manchem Nicht-Engländer kam das schon unspektakulär vor, und man fragte sich, ob der Wirbel um den ,,Sunday Roast'' noch so ein Beispiel englischer Selbstüberschätzung sei.

Doch dank Fachleuten wie Fergus Henderson und Chris Gillard ist der englische Roast heute wieder salonfähig. ,,Wir wollen unser Essen respektvoll behandeln - vor der Schlachtung und nachher'', sagt Gillard mit urbritischer Höflichkeit. Es geht ihm darum, dem Fleisch seinen natürlichen Geschmack zu entlocken, und ihn eben nicht mit zu viel Würze zu übertünchen.

All dies wäre nicht erwähnenswert, wenn sich die Revolution auf dem Herd nur in ein paar Szeneküchen in London abspielen würde. So ist es aber nicht: Kochbücher stehen an der Spitze der Bestsellerlisten, Kochsendungen haben die Primetime erobert. Fernsehkoch Jamie Oliver gab mit seiner Kampagne ,,Feed me better'' 2005 den Anstoß, die Qualität der Mahlzeiten in Schulkantinen zu verbessern. Seit Monaten beherrscht eine Debatte über die artgerechte Zucht von Hühnern die Titelseiten der Tageszeitungen.

Inzwischen konzentrieren sich Supermärkte wie Tesco oder Sainsbury's auf die Vermarktung von erntefrischem Gemüse - und immer häufiger findet man auch auf den Speisekarten von Pubs einheimische Köstlichkeiten wie grünen Spargel, Pastinaken und Knollensellerie. Jüngst veranstaltete BBC einen bombastischen ,,Cookalong'', angeführt von Gordon Ramsay: Der war mal Fußballspieler und ist jetzt Starkoch - und fasst die neuen Prioritäten der Nation damit präzise zusammen.

Fast hat man als Gast im St. John das Gefühl, dass das Restaurant mit seinen weißen Wänden und Kleiderhaken nicht ganz zufällig einem Schulzimmer ähnelt: ,,Les Rosbifs'' nehmen gastronomischen Nachhilfeunterricht. Und wenn wir nicht aufpassen, werden sie bald Klassenbester.

© SZ vom 08.03.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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