Aktuell :Ukrainisches Tagebuch

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Albina (links) ist aus der Ostukraine ins sächsische Bautzen geflüchtet. Hier ein Selfie mit Mama (Mitte) und einer Schultmitarbeiterin. (Foto: privat)

Was bedeutet Krieg für Kinder und Jugendliche im Alltag? Albina ist 14 Jahre alt und kommt aus einem kleinen Ort in der Ostukraine. Mittlerweile musste sie mit ihrer Mutter und Oma fliehen. Auch in Woche 7 seit dem russischen Überfall schreibt sie Tagebuch.

Übersetzung: Katja Garmasch

6. Apri l, Tag 42

Hamburg. Es gibt hier wunderbare Menschen und bunte Orte. Aber ich habe keine Antwort auf die Frage, wie ich mich in dieser Stadt fühle. Ich kann mich nirgendwo normal fühlen, außer in Mykolajiwka.

7. Apri l, Tag 43

Ich sehne mich nach meinen Verwandten, meinen Freunden, meinen Katzen. Heute Nacht habe ich geträumt, dass ich zu Hause an der Tür stehe und nach dem Schlüssel suche, um sie zu öffnen. Die Katzen laufen mir schnurrend um die Beine. Dann finde ich den Schlüssel endlich, aber er passt nicht ins Schloss. Als ich aufgewacht bin, musste ich weinen. Vielleicht war das mehr als ein Traum?

Am Morgen sind wir dann vom Hotel aus zum Matthias-Claudius-Gymnasium hier in Hamburg gefahren. Die Schule hat mich eingeladen, weil sie im Geschichtsunterricht das gleiche Projekt gemacht hat wie meine Klasse in der Ukraine. Es geht um den Zweiten Weltkrieg, aber auch um den Krieg, der im Osten der Ukraine schon seit 2014 tobt. Wir haben dafür mit Zeitzeugen gesprochen, Filme gedreht, ein Theaterstück gestaltet. Die Hamburger Schüler haben eine Performance daraus gemacht und dafür auch unser Material verwendet. Obwohl alles auf Deutsch war, habe ich es verstanden. Als sie einen meiner Klassenkameraden zeigten, brach ich in Tränen aus. Du sitzt da und denkst: Gerade hatte ich meine Freunde und Klassenkameraden noch um mich. Und jetzt bin ich mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt je wiedersehen werde. Ich habe große Angst, dass jemand stirbt.

8. April, Tag 44

Zwei Granaten haben den Bahnhof in Kramatorsk getroffen. Das ist der Bahnhof, von dem aus ich gefahren bin in der Hoffnung, dass bald alles vorbei ist. Der Bahnhof, auf dem ich irgendwann wieder ankommen wollte. Auf Gleis zwei, so wie immer. Mehr als 50 Menschen sind bei dem Angriff gestorben, etwa hundert wurden verletzt. Sie wollten flüchten, genau wie wir.

9. Apr il, Tag 45

Zurück in Bautzen möchte ich einfach nur schlafen. Am liebsten bis zu dem Tag, an dem das alles vorbei ist. Ich glaube immer noch an unsere Stärke und unsere Unabhängigkeit. Und ich vertraue unserem Präsidenten, obwohl ich Politik und alles, was damit zu tun hat, früher total verurteilt habe.

10. Apri l, Tag 46

Ich habe eine Nachricht von einer Freundin bekommen, die in unserer Stadt geblieben ist. Mein Herz hat wild gepocht, als ich sie gelesen habe. Sie sagt, dass es in letzter Zeit sehr laut in Mykolajiwka gewesen ist. Da überkamen mich die gleichen Gefühle wie vor der Abreise nach Deutschland: Zweifel, ob jemals wieder alles gut wird. Ich kann nichts dagegen tun, nur meinen Kopf anflehen: Bitte hör auf damit. Aber mit wem spreche ich eigentlich?

11. April , Tag 47

Ein leerer Tag mit leeren Hoffnungen auf ein Wunder. Meine Stimmung ändert sich sehr oft. Der beste Ausweg ist, einfach zu schlafen. Deshalb habe ich heute nicht nur einen Kriegstag verschlafen, sondern auch Unterricht, Frühstück, Spaziergang, Mittagessen ...

12. April, Tag 48

Unser Gastgeber Thomas hat angeboten, mich hier in der Schule anzumelden. Aber ich glaube, das lohnt sich nicht so recht. Hoffentlich bin ich in einem Monat zurück zu Hause und kann wieder in meine eigene Schule gehen.

Daran muss ich einfach glauben.

© SZ vom 16.04.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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