Zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse:Die Feier des Lesens

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Je stärker die literarische Bildung aus dem Zentrum der Allgemeinbildung rückt, desto eindringlicher wird das Buch an seinen Festtagen zelebriert. Ein Kommentar von Thomas Steinfeld

Von Thomas Steinfeld

Als sich Frodo Beutlin, der Hobbit, zu den Grauen Anfurten aufmachte, weil es für ihn kein irdisches Leben mehr geben konnte, überreichte er Sam, seinem Diener und Gefährten, ein dickes Buch: "Der Sturz des Herrn der Ringe und die Rückkehr des Königs" soll auf dem Umschlag gestanden haben. Der Leser versteht wohl, dass der Roman, dessen Lektüre er gerade abschließt, im Wesentlichen mit Frodo Beutlins großem Werk identisch sein dürfte.

Was immer es mit der alten Welt auf sich hatte, das gesamte Wissen um ihre Beschaffenheit, ihre Konflikte, ihre Helden und Opfer, der gesamte Vollrausch eines historischen Romans soll in die Hände der Nachfolgenden gelegt werden. Zu ihnen zählen nicht nur die nächsten Generationen der Hobbits - auch der Leser selbst empfindet sich als in dieses Vermächtnis eingeschlossen. Und in diesem Verhältnis ist das Buch nicht nur Stoff, sondern auch Siegel.

Pakt des Lesens

Es bestätigt den Pakt des Lesens, bestätigt, dass hier nicht nur von fremden Welten erzählt wird, sondern dass diese im Leser aufgehen und Wurzeln schlagen sollen, auf dass dieser dann, belehrt, unterhalten und bereichert, in die eigene Welt zurückkehre.

Dass der "Herr der Ringe" ein so überaus erfolgreiches Buch ist - das Lieblingsbuch der Deutschen, wenn man einer in diesen Tagen vom ZDF veranstalteten Umfrage glauben darf -, liegt nicht nur daran, dass dieser Roman eines der besten schlechten Bücher sein dürfte, die je geschrieben wurden. Sondern es geht auch auf das Pathos des Lesens, ja des Buchwissens zurück, das diesen Roman umschließt wie ein kostbarer Einband.

Der "Herr der Ringe" steht damit nicht allein - auch "Harry Potter" lässt sich von diesem Pathos tragen, genau wie Cornelia Funkes "Tintenherz", die neue Übersetzung von "Tausendundeiner Nacht" und die prächtigen Neuausgaben der Werke Alexander von Humboldts. Je stärker die literarische Bildung im Alltag aus dem Zentrum der Allgemeinbildung rückt, desto eindringlicher wird das Buch selbst an seinen Festtagen zelebriert - so sehr, dass man geneigt ist, die Feier des Lesens nicht nur für eine Verpflichtung auf das Buch, sondern für ein Zeichen seiner symbolischen Überhöhung zum Ort des Weltwissens, ja der universalen Verständigung zu halten.

Wenn nun die Frankfurter Buchmesse beginnt und der ägyptische Nobelpreisträger Nagib Machfus die Eröffnungsrede hält, haben viele Verleger den wichtigsten Tag dieser Veranstaltung schon hinter sich. Am Montag haben sie die internationalen Agenten getroffen, und was sich in den vergangenen Monaten hat verhandeln lassen, ist jetzt vereinbart, oder es wird nie vereinbart werden.

Symbolische Überhöhung

In den kommenden Tagen werden sich Autoren und Buchhändler, Kritiker und Pressereferenten treffen, und schließlich werden die Leser durch die Hallen stürmen - vor dem Hintergrund von Büchern, deren Inhalt während dieser Tage kaum einer zur Kenntnis nehmen wird. Die Buchmesse selbst ist ein Teil dieser symbolischen Überhöhung des Buches zum privilegierten Ort der sozialen, politischen und kulturellen Selbstverständigung. Auch sie ist ein kostbarer Einband, der um eine bestimmte Kulturtechnik und deren Produkte geschlossen wird.

Zum ersten Mal ist in diesem Jahr nicht eine Nation, sondern ein Konglomerat von Staaten zum Gastland erhoben worden: die Arabische Liga. Die Einladung ist schwierig, denn es kann dabei ja nicht wie bisher darum gehen, eine Nationalliteratur bekannt oder bekannter zu machen. Wäre es allein um die ägyptische Literatur oder die Literatur des Maghreb gegangen - dann hätte man erwarten können, dass die Aufgabe auch dieses Mal wieder gelautet hätte, einer national definierten, einigermaßen überschaubaren Menge von Büchern zu internationaler Wahrnehmung zu verhelfen.

Das aber kann in diesem Jahr nicht geschehen, weil die arabische Welt, wenn man sie denn überhaupt als solche bezeichnen kann, ein viel zu heterogenes Gebilde darstellt, als dass sie sich in einer gemeinsamen Präsentation angemessen darstellen ließe. Eine politische Sorge steht hinter dieser Einladung, das Bedürfnis oder der Wunsch, einer diffusen Bedrohung der westlichen Welt durch einen islamischen Fundamentalismus mit kulturpolitischen Mitteln entgegentreten zu können. Das Buch in seiner symbolischen Überhöhung ist das Medium, an das sich diese Hoffnung knüpft, und die Überhöhung ist ein Reflex dieser Sorge.

Ob ein solcher Ausgleich der Interessen im und durch das Buch gelingen kann? Nicht, wenn das Buch ein symbolischer Gegenstand bleibt, nicht, wenn man das Buch als Mittel der Völkerverständigung instrumentalisiert, nicht, wenn Hunderte von deutschen Übersetzungen arabischer Bücher ein paar Monate nach der Messe im Ramsch verschwinden. Eher, als dass man Versöhnung von den Büchern verlangen könnte, wären Wahrheiten von ihnen zu erwarten - und seien es solche, die der Sehnsucht nach Verständigung und Ausgleich zwischen den Kulturen zuwiderlaufen.

"Diese Seiten sind für dich", sagt Frodo zum Abschied seinem Diener. Recht hat er. Denn das Buch braucht kein Pathos, es braucht keine Strohfeuer, es braucht den Leser.

© SZ vom 5.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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