Zeitgenössischer Tanz:Auf der Rutsche ins Leben hinein

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Mitten hinein ins nicht immer ganz so leichte Leben: die Tänzer der Compagnie am Staatstheater Nürnberg in Goyo Monteros Choreografie "M" tragen Röcke und Hosen. (Foto: Jesús Vallinas)

Die aufwühlenden Choreografien von Marco Goecke, Jiří Kilián und Goyo Montero am Nürnberger Staatstheater

Von Florian Welle, Nürnberg

Die Wertschätzung könnte größer nicht sein: Seit Jahren vertrauen die bedeutendsten Choreografen dem Staatstheater Nürnberg Ballett unter Leitung von Goyo Montero ihre Arbeiten an. Jiří Kilián machte 2011 mit "Sechs Tänze" den Anfang, es folgten unter anderen Mats Ek und William Forsythe. Kilián ist nun auch beim jüngsten Programm wieder vertreten, das im weitesten Sinne das Thema "Gender" auslotet. Bei dem es dann aber vor allem spannend zu beobachten ist, wie hier drei Choreografen mit Kilián als Übervater an der Spitze ein Gespräch von selten zu erlebender Intensität und Dichte führen, bei dem vielfältige Bezugnahmen zu Tage treten. Das aber auch eine sehr persönliche Note besitzt.

Jiří Kilián ist diesmal mit "Falling Angels" von 1989 vertreten, einem hochdynamischen Stück für acht Tänzerinnen aus der sogenannten Black-and-White-Serie, die gänzlich ohne Farbe auskommt. Es ist eines von Monteros Lieblingswerken, wie er im Gespräch verriet. Doch ehe der Spanier zum Abschluss mit seiner Uraufführung "M", einer Arbeit für ausschließlich männliche Besetzung, direkt auf Kilián reagiert, wartet der neue Ballettabend bereits vor der Pause mit einem Highlight auf.

Zum ersten Mal zeigt die Compagnie mit "Thin Skin" ein Stück von Marco Goecke. Mehr noch: Die 2015 für das Nederlands Dans Theater kreierte Choreografie war noch nie außerhalb der Niederlande zu sehen. "Thin Skin", die Verbeugung Goeckes vor der wild streunenden Lyrik und Musik von Patti Smith, heißt auch ein sehenswerter Dokumentarfilm über Goecke, der nicht zufällig mit einem Statement Kiliáns beginnt: "Marco ist ein Unikum, er ist nicht leicht einzuordnen und das macht ihn besonders, anders als alle anderen." Kilián trifft hier natürlich einen Punkt, ist Goecke doch einer der eigentümlichsten Choreografen mit ganz und gar für sich stehender, ebenso energiegeladener wie hochsensibler Bewegungssprache. Und doch: Vergleicht man einmal das fast maschinell zu nennende Zittern und Hacken der Arme und Hände, das Goecke den Tänzern verschrieben hat, mit den flügelartig-vibrierenden Handbewegungen von Kiliáns gefallenen Engeln, wird ersichtlich, dass er wohl vor allem über die Auseinandersetzung mit dem Tschechen zu seinem unverwechselbaren Stil gefunden hat.

Bei Kilián wie bei Goecke ist die Bühne leer. Tanz pur! Goecke jedoch hüllt die mit Tattoos bedruckten Trikots der Tänzer (sechs Männer, vier Frauen) für ihre Abfolge vor allem hochkomplexer Soli und Pas de deux in blaues Licht, während bei Kilián der Lichtspot dominiert. Zusätzlich unterstreicht Nebel den kalt-kristallinen Charakter von Goeckes Choreografie - "You are the adrenaline rushing through my veins/Stimulate my heart, heavy crystalline", singt Patti Smith in "Godspeed" -, die zwar das Liebeswerben kennt, also durchaus Erotik besitzt, aber bei der die Tänzer kaum mehr eindeutig Mann oder Frau repräsentieren, sondern schlicht Menschen sind. Vielleicht mehr noch: Energien, die sich an- und abstoßen und zuweilen auch verglühen. Zweimal steht ein Blumenstrauß in Flammen. "Thin Skin" fordert äußerste Präzision. Die Umsetzung gelingt der Compagnie auf beeindruckende Weise. Wie sie auch die von Kilián geforderte Dynamik liefert, der seine Engel zur treibenden Rhythmik von Steve Reichs "Drumming. Teil Eins" ihren Kampf um Autonomie und Freiheit ausfechten lässt: Immer wieder schert eine Tänzerin aus der Gruppe aus, macht ihr Ding. Wer anders sein will (oder schlicht anders ist), erfährt umgekehrt die Ablehnung der Gemeinschaft.

Von diesem Schicksal erzählt auch Goyo Montero in "M". M wie Männlichkeit. Aber auch Menschlichkeit. Montero ist ein viel stärker erzählender Choreograf, und so lässt er die Tänzer zu Beginn über eine Rutsche, die wohl den Geburtskanal symbolisiert, auf die Bühne gleiten. Die einen tragen Hosen, andere Röcke. Die mit den Röcken werden es schwerer haben, die Atmosphäre ist aggressiv, es gibt kraftvoll getanzte Hahnenkämpfe. Der Ballettabend "Kylián/Goecke/Montero geht in vielerlei Hinsicht unter die Haut. Nach jedem Stück tosender Beifall.

© SZ vom 17.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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