"So ist man nicht, so will man auch nicht sein", schreibt die taz unter Bilder von Kandidaten der neuen Big-Brother- Staffel.
Wenn man sich Bilder sucht von Leuten, die den neuen negativen Konsens - die Unterschicht - repräsentieren, wendet man sich am besten an Darsteller und Figuren von Realityshows, Mittagstalk und Gerichtsfernsehen.
In diesen Genres ist erst die Unterschicht kenntlich geworden, von der sich abzugrenzen im selben Maße modern geworden ist, wie jede Hoffnung auf ihre Politisierbarkeit aufgegeben wurde.
Oder auf die Lösbarkeit der politischen Probleme, die man mit ihr verbindet. In der Konjunktur dieses Begriffs drückt sich der Wunsch aus, in stimmigen Bildern formulieren und bannen zu können, was sich als politisches Problem in diesem Leben und diesem System nicht mehr lösen lassen wird: Arbeitslosigkeit, Massenverarmung und Desintegration.
Wie also sind die auf den Bildern? Warum will man so nicht sein? Nun, im Gegensatz zu früheren, eher grauen Unterschichtsvertretern, die die naturalistische Ästhetik so liebt, sind sie sehr expressiv.
Ihre Frisuren erinnern an präkolumbianische Häuptlinge beider Amerikas. Ihre Outfits mischen orientalische Prunkgewänder mit den Hypertrophien von Football-Staffagen. Sie tragen tribalistische Signaturen an den komischsten Körperstellen: Arschgeweih, Nasenring und Trizeps-Tattoo. Das findet man nicht nur peinlich, weil man den ganzen Tiefsinn trübe findet, auf den Tätowierungen und Piercings verweisen. Vor allem finden die Beobachter der Unterschicht es überhaupt unangemessen, dass diese sich ausdrückt. Das nämlich ist nicht nur prinzipiell ein Privileg der selbstverwirklichenden Schichten.
Insbesondere ist es das, weil das stilistische Arsenal, mit dem sich die Auffälligen aus dem Privatfernsehen artikulieren, vor noch gar nicht so langer Zeit den Subkulturen der Mittelschicht gehört hat: Piercing kam als, wie man damals sagte, "neo-primitives" Accessoire von den sexuell experimentellen Flügeln der Industrial-Kultur - Genesis P. Orridge, der Gründer von Throbbing-Gristle, sprach in den mittleren Achtzigern öffentlichkeitswirksam als erster über seine Genitalpiercings.
Im selben, immer breiter werdenden Milieu, das vor allem in den Hippie-Enklaven in Kalifornien, aber auch in Segmenten der schwulen Subkulturen gedieh, sah man in den späten Achtzigern immer mehr glänzende Glatzen, Metall an Nasen und Nippeln und hörte harte elektronische Musik.
Tribalistische Festivals wie der "Burning Man" wurden populär.
Wer sich heute den Bildband "Modern Primitives" ansieht, der um 1990 in Kalifornien erschien, entdeckt ein vollständiges Verzeichnis aller Körpergestaltungselemente, die die sogenannte Unterschicht im sogenannten Unterschichtsfernsehen heute spazieren führt.
Doch gehörten all die Piercings und Tattoos damals noch sinnsuchenden bürgerlichen Subkulturen mit Begeisterung fürs Extreme, Exotische oder Esoterische.
Wenn sie die eigenen abgelegten Spielsachen eine gesellschaftliche Etage tiefer wiederentdecken, reagieren die Bürgerkinder beschämt.
Beschämender aber als die Tatsache, dass sie die einst mit weitreichenden Projektionen verbundenen Zeichen nun ungedeckt bei ungebildeten Unterschichtlern wiederfinden, ist das Verhalten der Bürgerlichen selbst.
Denn in all den Labor-Formaten des Reality-Fernsehens wird Jargon, Körpersprache und Gender-Performance der Versuchspersonen in den grellen Fokus der Dekontextualisierung gestellt.
In diesen Knästen und Studios - das weiß jeder Ethnograph - sähen auch die unangekratztesten Charaktere deutscher Fernsehunterhaltung, die Ärzte und Abendunterhalter wie würdelose Versuchstiere aus.
Zumal man diese Versuchspersonen dann auch noch seit der ersten Big-Brother-Staffel mit dem Authentizitätsimperativ anherrscht, doch bitte so zu sein "wie sie wirklich sind." Nichts ist kranker als den beschädigtsten Opfern einer Gesellschaft - denn das sind naturgemäß die Angehörigen der Unterschicht - dabei zuzuschauen, wie sie auf Befehl versuchen, authentisch zu sein.
Doch die neue kulturelle Präsenz von Ausgeschiedenen und Ausgegrenzten geht weit über die Opfer in den Labors des Fernsehens hinaus. Die andere Hälfte der sichtbaren Unterschichtler ist alles andere als beschämt. Und niemand lacht über sie. Einige haben Angst vor ihnen, andere bewundern sie und wollen so sein wie sie, wieder andere entdecken gefährliche Entwicklungen in ihrem raumgreifenden Habitus.
Die Rede ist von vulgären Rappern und trivialen Techno-Protzen, aber auch von stolzen Sportlern, die mit demselben Style, den gleichen Gesten und ähnlichen Accessoires nun alles andere als belämmert in die Kameras blicken. Körperflächendeckende Tattoos zieren schon seit Jahren unsere 110-Meter-Hürdenläufer-Elite, Stabhochspringerinnen schlüpfen gepierct über fünf Meter hohe Latten, tretende Tribalisten wie Effenberg sind die Vorbilder unserer irregeleiteten Jugend. Rap ist in seinem heutigen nahezu komplett depolitisierten Stadium die global erfolgreichste Unterschichtenkultur.
Im ersten Stadium antirassistisch politisch, wurde HipHop später zu einer Formel zur Selbstethnisierung, die sich problemlos von der afroamerikanischen auf jede andere Minderheit übertragen ließ.
Heute sind konkrete politische Inhalte, aber selbst ethnische Konkreta weit in den Hintergrund getreten und durch einen allgemein neo-traditionellen Machismo ersetzt worden, der sich ebenso prima mit den esoterischen Schattierungen schamanelnder Tätowierungen verträgt wie mit "echten" Ethnizismen oder Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft.
Das sieht alles toll und stolz aus. Die Jungs wollen so sein wie diese Jungs.
Die echte Unterschicht sitzt indes eher vorm Fernsehen. Denn natürlich ähneln diese Bilder kaum wirklichen Subproletariern. Sie verhalten sich zu den Kunden der Arbeitsagenturen so wie sich die tragisch lebensverlogenen Bewohner von Starnberger-See-Villen in verwehten Derrick-Folgen zu den echten Reichen und Mächtigen ihrer Zeit verhielten. Wenn man wissen will, wie es in den unzugänglichen Bereichen der Gesellschaft so zugeht, schaut man ins Fernsehen. Früher führte einen dort ein Erik Ode oder ein Derrick, ein Tatort-Kommissar oder Zollinspektor Zaluskowsky zu einer bizarren und bigotten Bourgeoisie und teilte mit uns Zuschauern das typische Kleinbürgerprivileg des sittlich-moralischen Urteils.
Heute windet sich, wenig moderiert, die mal peinliche und beschämte, dann wieder sich stolz und herausfordernd spreizende Lumpen-Pracht durchs Privatfernsehen und überlässt der immer noch beobachtenden Klasse der Kleinbürger das Privileg des Kopfschüttelns. Früher musste den beobachtenden Kleinbürgern gezeigt werden, dass es auch ein Gutes hat, wenn es ganz nach oben nicht geht, heute dass es auch ein Gutes haben kann, wenn es bald weiter nach unten geht.
Diese Fernseh-Unterschicht ähnelt am ehesten dem, was in der Antike ein Gladiator gewesen sein muss. Ein Elender, dessen Elend zugleich Voraussetzung für eine bestimmte Art Ruhm ist, die so begehrenswert wie kurzfristig und nicht lebbar ist. Die spektakuläre Gladiatoren-Unterschicht ist nun eine Aufführung, die die nichtexpressive Mehrheit der neuen Ausgegrenzten unsichtbar macht. Nicht zuletzt durch die Einführung von fixen Figuren, Genres, Typen. Ihr gelingt dies aber nur, weil sie durch die zwei antagonistischen medialen Genres Selbstdarstellung (Stolz) und Beobachtetwerden (Beschämung) zwischen zwei Positionen rochiert und in einer Bewegung ist. Und Bewegung wollen wir nun mal sehen auf bewegten Bildern.