Western:Wassertrog vor dem Saloon

Lesezeit: 1 min

Nancy Vo: Der Outlaw. Aus dem Englischen von Richard Rosenstein. Freies Geistesleben, Stuttgart 2020. 44 Seiten. 16 Euro. (Foto: N/A)

Jeder verdient eine zweite Chance, selbst ein Outlaw.

Von Maren Bonacker

"Es war einmal ein Gesetzloser." Mit dem Wortlaut eines Märchens beginnt Nancy Vo ihre kleine, kraftvolle Geschichte "Der Outlaw", die in Worten so karg ist wie die Landschaft, in der sie spielt. Die Menschen, die in dieser staubgrauen Gegend wohnen, fürchten die Missetaten des Gesetzlosen und spekulieren darüber, welches Verbrechen er wohl als nächstes begehen könnte. Aus Vorsicht schließen sie ihre Läden früher, warnen ihre Kinder. Dann verliert sich seine Spur, und lange hört niemand mehr von dem Gesetzlosen. Als eines Tages ein Fremder in die Stadt kommt und sieht, dass sie über die Jahre heruntergekommen ist, beginnt er ohne große Worte, da mit anzupacken, wo es nötig ist. Er repariert den Wassertrog vor dem Saloon, das Schindeldach des Schulhauses, die Bahnschwellen. Ein Junge aus der Stadt hilft ihm dabei. Aufmerksamkeit schenken die übrigen Bewohner der Stadt dem Fremden erst, als einer von ihnen in ihm den Gesetzlosen wiedererkennt. Stumm und ohne Regung erträgt dieser ihren Abscheu; es ist der Junge, der sich schließlich schützend vor ihn stellt. Als Einziger erkennt er die Motivation des Gesetzlosen, der auf seine Weise versucht, Wiedergutmachung zu leisten. Und auch wenn er nicht alle überzeugen kann, verläuft sich doch die Menge wieder, und jeder geht seiner Beschäftigung nach.

Es passiert nicht viel in Nancy Vos sparsam gestaltetem, erstaunlich kleinformatigem Buch, in dem die spärliche Landschaft und der regengraue Himmel beinahe ebenso viel Raum einnehmen wie die Protagonisten. Himmel, Fluss und ein Boden, auf dem nichts gedeiht außer düsteren Tannen, tragen zur tristen Atmosphäre bei. Die studierte Architektin gönnt den Figuren kaum Farbe, einen Hauch von Blau, ein wenig Gelb. Damit erinnern die sich jeweils über eine Doppelseite erstreckenden Illustrationen an Fotografien einer längst vergangenen Zeit; und tatsächlich sind es Zeugnisse jener Zeit, die Nancy Vo in ihre aquarellierten und getuschten Bilder mit einbaut. Zeitungsausschnitte, Papierfetzen und Textilien aus den 1850er- und 1860er-Jahren überlagern die zarten Wasserfarben, verleihen Struktur und fügen sich unaufdringlich als Landschaft und Kleidung mit ein. Bei aller scheinbaren Einfachheit berührt die eindringliche Botschaft der Geschichte: Jeder hat eine zweite Chance verdient.

"Der Outlaw" ist das erste Buch einer als Trilogie angelegten Reihe um Außenseiter, Randfiguren und Sinnsuchende im Wilden Westen. (ab 5 Jahre)

© SZ vom 03.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: