Werk der Wahl:Kurven mit Charme

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Der Bistro-Stuhl von Michael Thonet erinnert Designer Giles Taylor an frühere Zeiten in Paris

Als ich kürzlich mit meinen Kindern in der Pinakothek der Moderne in München war, habe ich mir die Zeit genommen, ihnen die weichen Kurven und die sich daraus ableitende Gemütlichkeit des Bistrostuhls Nr. 14 von Michael Thonet zu erklären. Er verfügt über eine wunderbare Einfachheit im Ausdruck, die ich faszinierend finde und die ich mit Freude aus allen Winkeln betrachten und verstehen möchte. Es begeistert mich, wenn ein Designer ein Material herausfordert und im Einklang mit der natürlichen Beschaffenheit des Materials neue Formen schafft. Genau das ist Michael Thonet gelungen.

In den 1850er-Jahren erfand Thonet die Technik des Verbiegens von Holz unter Einwirkung von Dampf. Ein Verfahren, das die Möbelherstellung und auch die Einrichtungsstile revolutionierte. Die Kurven, die durch diese Technik entstehen, wirken natürlich und ungezwungen. Folgt man der Form mit den Augen, fühlt es sich so mühelos und selbstverständlich an, als binde man einen Schnürsenkel.

Besonders gefällt mir der Minimalismus des Stuhls. Vor allem da die Schönheit des Objekts nicht durch einen absichtlichen oder intellektuellen Reduktionsprozess entstanden ist. Er ist einfach, was er ist. So intelligent erfüllt die Lösung die Funktionsanforderung - mit angemessenem Komfort und ausreichender Stabilität. Sein leichter Charakter ist perfekt geeignet für gut besuchte Cafés. Man kann den Stuhl ganz einfach mit einer Hand greifen und anheben, während man mit der anderen Hand Kaffee, Mantel und Zeitung jongliert. Er verfügt über keinerlei scharfe Kanten oder sperrige Beine. Und zur Freude der Kellner lässt er sich auch noch einfach stapeln.

Mehr als ein Sitzmöbel: Michael Thonet schuf im Spiel der Proportionen und Formen ein Objekt, das Bewegung vermittelt und Leben ausstrahlt. (Foto: Die Neue Sammlung (A. Laurenzo))

Vor 25 Jahren, während meiner Zeit als Automobildesigner für Citroën, habe ich sechs Jahre in Paris gearbeitet und gelebt. Dieser Stuhl stand damals in meinem Lieblingsbistro. Er gefiel mir so unglaublich gut, dass ich mir selbst einen geleistet habe. Damals empfand ich starke Parallelen zwischen Thonets Stuhl Nr. 14 und der berühmten Ente, dem Citroën 2CV von Boulanger. Beide Designs verfügen über einfache Kurven und über diesen freundlichen Charme, der in dem Betrachter eine positive Reaktion hervorruft.

Als Automobildesigner kenne ich die Herausforderung, eine dreidimensionale Lösung für ein Objekt zu finden, das in verschiedenen Umgebungen und aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet wird. Thonets Stuhl hat aus allen Winkeln einen einzigartigen Charakter. Die Proportionen der gebogenen Rückenlehne zu den sich nach außen geschwungenen hinteren Beinen hat so viel Gleichgewicht wie die Haltung eines Balletttänzers. Besonders gefallen mir die vorderen Beine, die sich mit ihrem verjüngenden Querschnitt nach außen wenden. Ohne diese einfache Bewegung des Designs würde der Stuhl so viel von seinem Flair und seiner menschlichen Assoziation einbüßen. Thonet hätte die vorderen Beine einfach mit gleichmäßigem Querschnitt und gerade halten können. Teil seines Genies war es, dem Stuhl eine Bewegung einzuhauchen, die ihn beinahe sprichwörtlich zum Leben erweckt.

Giles Taylor ist seit 2012 Chef-Designer von Rolls Royce, zuvor war er unter anderem für Ford, Citroën und Jaguar tätig. (Foto: Rolls Royce/oh)

Als ich in der Pinakothek der Moderne diesen Stuhl entdeckt habe, fühlte ich mich zurückversetzt nach Paris. Ich schaute durch das Fenster des kleinen, an diesem Tag noch nicht geöffneten Cafés am Rive Gauche auf das ausdrucksstarke Meisterstück von Thonet. Und ich denke an Werke von Sartre, Gainsbourg und Djagilews. Nur wenigen Stücken des Alltagsdesigns fühle ich mich so verbunden.

Neue Sammlung in der Pinakothek der Moderne, Barer Straße 40, Di-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr

© SZ vom 30.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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