Wellenreiten:Runter! Tiefer! In die Hocke!

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Die Jugendkulturen entziehen sich endgültig der Erwachsenenwelt. Ein Frontbericht.

Von Andrian Kreye

Da ist er wieder der stechende Schmerz, der kurze Moment der Unachtsamkeit, der ausreicht, dass man, Nase voraus, unter Wasser in den Sand gepresst wird. Auf diese Weise stößt man dann auch zwangsweise auf Thesen zum Generationenkonflikt, die man möglicherweise bislang selbst unterstützt hat - und die sich nun zu schmerzhafter Gewissheit verdichten. Beispielsweise die Behauptung, dass sich die Jugendkulturen längst auf eine radikale Körperlichkeit zurückgezogen und somit endgültig dem Zugriff der Erwachsenen entzogen hätten (siehe SZ vom 27. Juni 2003).

Und weil sich Erwachsene schon seit zwei Generationen nicht mehr eingestehen, dass sie in den Domänen der Jugend nichts suchen haben, aber den Dialog mit derselben möglichst auf Augenhöhe führen wollen, kann das zu Situationen führen, in denen der erwachsene Mensch nicht nur seine Würde, sondern auch seine körperliche Unversehrtheit aufs Spiel setzt.

Ein halbes Dutzend Sehnsuchtsmomente

Dabei hatte alles nach einer Traumreise ausgesehen. Zwei Wochen lang an brasilianischen Dschungelstränden das Wellenreiten zu erlernen - in dieser Aussicht steckte mindestens ein halbes Dutzend unwiderstehlicher Sehnsuchtsmomente aus den Tropen-, Pop- und Jugendmythologien.

Aber beginnen wir zunächst mit der Theorie der vorab erwähnten Thesen. Viel wird derzeit über den Generationenkonflikt debattiert. Das liegt daran, dass die letzten Angehörigen der im amerikanischen Sprachgebrauch Babyboomer genannten, geburtenstarken Jahrgänge dieses Jahr die Altersgrenze des 40. Lebensjahres überschreiten. Weil sie während der Rock'n'Roll-Ära und der Zeit der Vietnamkriegproteste den ersten Sieg der Jugend im Generationenkonflikt davongetragen hatten, wollten sie lange nicht wahrhaben, dass es sich dabei nicht nur um einen Konflikt, sondern um einen immerwährenden Zyklus handelt, dem man sich auch nicht durch das Erlernen der E-Gitarre oder den Kauf von Motorrädern und neuartigen Sportgeräten entziehen kann.

Prinzipiell schafft sich nämlich jede Jugend eine Kultur, die so kodiert ist, dass sie den Älteren nicht zugänglich ist. Weil die Kinder des Rock'n'Roll aber den Gestus des jugendlichen Rebellen auch noch pflegten, als sie längst Großeltern waren, wurde es für die nachwachsenden Generationen immer schwerer, sich gegen die Alten abzugrenzen. Was blieb den Jungen anders übrig als der Rückzug auf den eigenen Körper? Es waren vor allem die Extremsportarten, die ihnen erlaubten, sich eine unzugängliche Welt aufzubauen. Skate- und Snowboarden, BMX-Radfahren, Wakeboarden und Wellenreiten sind Sportarten, die sich den physischen und psychischen Möglichkeiten der Älteren entziehen. Da gehört ein Höchstmaß an Flexibilität dazu, Kraft, Kondition und auch ein bisschen von jenem Unsterblichkeitsgefühl, das sich erst später verliert. Und die Königsdisziplin dieser Welt bleibt bis heute das Surfen.

Durch dampfenden Dschungel

Dieses gilt allerdings als mit Abstand schwierigste aller Sportarten. Wer sich aber nach Brasilien in das Fischerstädtchen Itacaré begibt, der hat auch im hohen Alter von 40 Jahren noch eine Chance, auf einem Brett zu balancieren. Der Münchner Benjamin Kromayer leitet dort das Easydrop Surf Camp, das in einem der unzähligen Surfmagazine zur zweitbesten Surfschule der Welt gekürt wurde - weil Kromayer und seine brasilianischen Surflehrer ein Programm entwickelt haben, das die schwierigsten Sportarten selbst Großstädtern begreiflich machen kann, deren körperliche Betätigung ansonsten auf die Hamsterradaktivitäten eines Fitnesscenters beschränkt sind.

Jeden Morgen werden die Schüler mit Geländewagen in den Wald gekarrt, wo sie dann, das Brett geschultert, durch den dampfenden Dschungel zu einsamen Stränden marschieren. Dieser Aspekt des Kurses ist allerdings mehr Zugeständnis an das potenzielle Scheitern als romantisches Naturerlebnis. Der Surfstrand von Itacaré ist zwar nur fünf Fußminuten vom Hafen entfernt, doch dort tummelt sich die lokale Jugend mit ihren Brettern - drahtige Teenager, deren dunkelbraun gebrannte Rücken im Sonnenlicht gleißen. Die Aussicht, dass man dort als ungeübter Tölpel den Platzhirschen in die Welle fährt und dafür eine Tracht Prügel kassiert, ist dort weit näher als das Ziel, im Pulk der minderjährigen Könner eine Welle zu erwischen.

Seniorenriege des Surfens

Nun ist es nicht besonders schwer, mit einem Brett die Welle hinunterzureiten. Da reicht schon wenig Übung, um flach auf dem Bauch jenen Punkt der brechenden Schaumkrone zu erwischen, der einen in die Gleitfahrt versetzt. Vor allem auf einem so genannten Longboard, einem jener gut drei Meter langen, altmodischen Bretter, die an Fotos aus dem Kalifornien der fünfziger Jahre erinnern, hat man genug Auftrieb, um schon nahe am Strand in der Weißwasserbrandung in Fahrt zu kommen.

Für Anfänger perfekt ist schon das erste rauschhafte Erlebnis, wenn einen die geballte Kraft eines Ozeans nach vorne katapultiert. Das Problem ist das Aufstehen. Es basiert auf einem einbeinigen Liegestütz, der gleichzeitig mit einer Art Katzensprung, einem Sambaschritt und dem Balanceakt eines Seiltänzers einen schier undurchschaubaren Bewegungsablauf bildet, an dessen Endpunkt man in der schnittigen Hockstellung der Surfer auf der Welle stehen sollte.

Viel Übung ist dafür nötig. Und eine bisher nie gekannte Schmerztoleranz. Zwar hat Weißwasserbrandung den Vorteil, dass man nicht ganz so heftig von den Brechern herumgewirbelt wird. Doch weil man nicht wie üblich auf dem Bauch paddelnd, sondern zu Fuß in die Wellen geht, schlagen diese einem das Brett mit Wucht gegen den Körper. Da beginnt er dann auch - der stechende Schmerz. Später wird sich herausstellen, dass das Brett eine Rippe gebrochen hat. Aber noch will man nicht aufgeben.

Nach vier Tagen der erste kurze Triumph. Drei Meter aufrecht! Was für ein Glücksgefühl. Nur gedämpft von dem Anblick der zwei 19-jährigen Jungs, die den Kurs verspätet am selben Morgen begonnen haben. Die stehen nun am Strand und quittieren die Mühsal der älteren Kursteilnehmer mit spöttischem Lächeln.

Pure Überlebensstrategie

Langsam verlieren auch die Surfchamps, die hier als Lehrer arbeiten, ihre Geduld. Nun gut, bei jedem zweiten Ritt steht man nun schon. Aber die Haltung! Mit ausladenden Gesten winken sie vom Ufer: Runter! Tiefer! In die Hocke! Wie aber erklärt man einem durchtrainierten 24-Jährigen, der mehr als die Hälfte seines Lebens mit Wellenreiten zugebracht hat, dass die in den letzten Jahren massiv gewordene Körpermitte in dieser Haltung schmerzhaft gegen die gebrochene Rippe drückt? Gar nicht erklärt man das, denn diese Generation unterscheidet sich ja nicht nur in ihrer Körperlichkeit von den Erwachsenen, sondern im Gegensatz zu den Subkulturgenerationen der sechziger bis achtziger Jahre auch durch ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein. Das ist kein Widerspruch zum Unsterblichkeitsgefühl auf all den Brettern, die die Welt der Jugend bedeuten, sondern pure Überlebensstrategie. Einen Schüler mit Rippenbruch würden sie sofort nach Hause schicken. Aber man ist ja nicht Tausende von Meilen hierher gereist, um in der Hängematte zu liegen.

Am ersten Wochenende stehen die Snowboarder schon draußen in der schweren Brandung. Einer der Lehrer will nun doch wissen, wie alt sein schwieriger Schüler ist. Vierzig? Ratlose Pause, dann der aufmunternde Zuruf: "Bist ja immer noch gut dabei!", und die Erklärung, dass man bei Turnieren damit schon in der "Legend's Class" wäre. Ein freundlicher Euphemismus für die Seniorenriege des Surfens.

Ausgewischt

Sollte man an diesem Punkt nicht die Waffen strecken? Die Grenzen des Alters eingestehen? Sich damit zufrieden geben, auf der Skipiste immer noch eine ganz gute Figur abzugeben? Aber dann darf man doch mit hinauspaddeln. Der Wind hat aufgefrischt, ein Sturm zieht heran, und deswegen bauen sich die Brecher weiter draußen bis zu zwei Meter hoch auf. Das ist viel Wasser, das auf einen zurollt, wenn man flach auf einem Fiberglasbrett liegt. Die Manöver sind geübt.

Rückwärtsrolle durch die Gischt. Dann sitzt man hinter der Brecherlinie und starrt gen Horizont. Jede Welle, die einem da zwischen den Beinen durchrauscht scheint die Kraft eines ICE zu haben. Fegt mit sattem Rollen gen Land. Und dann kommt sie, die eine Welle, auf die der Lehrer nun energisch deutet. Man liegt auf dem Brett, das Meer hebt sich in scheinbar schwindelnde Höhen, die Wucht zieht nicht mehr vorüber, nein sie ballt sich direkt unter einem zur Gischtkrone, zieht einen nach vorne. Mit einem Male steht man, der Bug hebt sich weit über den grün glitzernden Schlund. Dann tut sich der Schlund plötzlich auf, die Gischt packt das Brett, zieht es nach unten. "Wipeout" heißt das, so erklären sie einem mild lächelnd dann später. Ausgewischt. In alle Richtungen zerrt einen die Welle dabei, spuckt einen erst nach einer Ewigkeit aus. Doch dann klettert man gleich wieder aufs Brett. Hinaus zieht es einen, zu jenen Momenten der Jugend, die man sich so gerne erobern möchte. Egal, wie viel Kampf das im Alter bedeutet.

© SZ vom 13.4.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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