Wahl-Krimi bei sueddeutsche.de:Der Fluch der Urne

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Der Tag vor der Wahl: Eine mysteriöse SUBSTANZ soll Angela Merkel den sicheren Sieg bringen. Doch nicht jeder will das. Mit allen Tricks kämpfen Deutschlands Politiker um die Macht. Und Berlin versinkt im Chaos. Das kann es alles gar nicht geben. Das ist Satire! Hier ist der Fortsetzungsroman in 18 Lieferungen. Ab jetzt täglich von Hans Neubauer

Die wörtlichen Reden der in diesem satirischen Roman auftretenden Politiker stammen aus frei zugänglichen Quellen. Die Zitate sind aus dem Zusammenhang gerissen. Die Handlung ist frei erfunden. Weitere Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

"Chinesen sind ja clever."(Erle Stanley Gardner) "Geht nicht gibt's nicht." (Angela Merkel)

PROLOG

25. März 2004, Visva-Bhárati-Universität, Shantiniketan, Indien Shintram Preth schwitzte. Sein Uniformhemd klebte ihm wie eine zweite Haut am Rücken und auf der Brust. Er ächzte. Die Knie wurden auch nicht besser. Träge ging er weiter durch die Dunkelheit. Nach der ersten Runde um den Campus betrat er den Flur des anatomischen Instituts und überprüfte die Türen zu den Präparateräumen.

Er verschloss die rückwärtige Pforte des Instituts und ging über den Hof auf das niedrige Gebäude des Tagore-Museums zu. Ruhig lag der Bau mit seinen vergitterten Fenstern da, das Haupthaus des ehemaligen Landerziehungsheims. Mit seiner Taschenlampe leuchtete der Nachtwächter auf das Schild über der Tür. Wie jede Nacht, so las er auch heute die Worte, die Asiens erster Nobelpreisträger seiner Heimat als Hymne geschenkt hatte: Jana-gana-mana-adhinayaka, jaya he, Bharata-bhagya-vidhata Bharata bhagyavidhata.

Shintram Preth summte die geliebte Melodie vor sich hin: "Der du die Herzen der Völker durchwaltest und unsres Landes Schicksal gestaltest." Er dachte an den alten bärtigen Mann, den die Engländer Tagore nannten. Rabindranath, der du unsres Landes Schicksal gestaltest. Preth versuchte vergeblich, seinen Schlüssel in das Schloss zu stecken; es klemmte. Er schnaufte ein wenig. Der Schweiß rann ihm in die Augen, er suchte nach seinem Taschentuch. Es war wirklich eine heiße Nacht. Als ihm bewusst wurde, dass das Schloss beschädigt war, fluchte er. Dann aber fiel ihm Tagore ein, der weise Mann, dem dieses Haus gehört hatte. Trotz der Hitze musste Shintram Preth lächeln. Alles würde gut werden. Mit diesem Lächeln auf den Lippen starb er.

*

Der Inder in dem dunklen Overall zog das Messer aus der Wunde im Nacken seines Opfers. Sorgfältig wischte er die schmale Waffe am Hemd des Nachtwächters ab, ließ sie zurück in das Futteral an seiner Hüfte gleiten. Erst dann glitt John aus dem Schatten neben ihn. Mit einem kurzen Knacken öffneten sie die Tür und gingen hinein. Die Leiche ließen sie liegen; es würde nicht lange dauern.

Die Lichtkegel ihrer Stablampen huschten über die Wände. Sechs Meter bis zum Arbeitszimmer des Nobelpreisträgers. Ein paar Atemzüge lang warteten sie vor der Tür, lauschten ins Dunkel. Stille. Dann standen sie vor der Vitrine. Der Mann mit dem Messer nahm seine Werkzeuge aus dem Gürtel, beugte sich vor. Er setzte eine Saugscheibe an, legte den Kipphebel um und zog mit dem Glasschneider einen großen Kreis über das Glas.

Der Amerikaner sah die Nobelpreis-Medaille auf grünem Samt in der Vitrine liegen. Daneben erblickte er die alte, abgenutzte Taschenuhr und den Goldring, den Tagore von seinem Vater geerbt hatte. Dann sah John das, wofür er gekommen war. Auf einem roten, bestickten Kissen stand eine eckige, aus feinem Silber getriebene Schatulle von der Größe einer Zigarettenschachtel. Ein Löwenkopf zierte den Deckel der Dose, eine feste, aus Schlangenleder gewirkte Schnur war mit Silberdraht an zwei vorstehenden Ösen befestigt. Der Mann, der sich John nannte, war am Ziel.

Der Inder steckte den Glasschneider zurück in den Gürtel. Mit der Saugscheibe hob er das fast kreisrunde Glasstück aus dem Vitrinendeckel und legte es vorsichtig neben das Loch. Das leise Sirren hörte er erst, als es zu spät war. Er starb ohne einen Laut.

Mit dem linken Arm stützte der Amerikaner den Leichnam ab. Dann ließ er ihn langsam zu Boden sinken. Ruhig schob er seinen Totschläger zusammen. Ein zweiter Schlag wäre nicht nötig; er hatte die Fontanelle getroffen. Er griff in die Vitrine, nahm den Ring, die Uhr, die Medaille heraus und ließ alles vorsichtig in einen schwarzen Lederbeutel gleiten.

Er zog eine Bleidose aus seiner Gürteltasche, stellte sie auf einen Tisch, klappte sie auf. Er hob die Schatulle aus der zerstörten Vitrine. Überraschend schwer lag sie in seiner Hand, und für einen Moment war ihm, als ginge eine schwaches Leuchten von ihr aus. Er stellte die Schatulle in die mit Samt ausgeschlagene Bleidose, schloss den Deckel und ließ das schwere Metall in einem zweiten Beutel aus schwarzem Leder verschwinden. Sein Boss würde zufrieden sein.

*

Miami, USA, 30. September 2004

Bei dem ersten Fernsehduell gegen seinen Herausforderer machte der amerikanische Präsident eine überraschend gute Figur: 70 Millionen Fernsehzuschauer sahen, wir er seinem Konkurrenten Paroli bot. In den folgenden Tagen aber spekulierten kritische Beobachter über eine rechteckige Ausbeulung im Jackett auf dem Rücken des Amtsträgers: Hatte der Präsident bei seinem Auftritt eine geheime Sendeanlage getragen? War der erste Mann des Staates mit einem Einflüsterer verbunden gewesen? Beim zweiten Duell am 8. Oktober in St. Louis (Missouri) machten 45 Millionen TV-Zuschauer ähnliche Beobachtungen. Ein paar Wochen lang hielt sich das Gerücht, der Präsident habe manipuliert, in den amerikanischen und europäischen Medien. Bestätigt wurde es nie. Der Schneider des Präsidenten erklärte, bei der Beule habe es sich um eine Falte an der Anzug-Rückennaht gehandelt.

Am 2. November 2004 wählte das amerikanische Volk den Mann aus Texas das zweite Mal zu seinem Präsidenten.

EINS

Schwarz und Rot

Berlin, am Tag vor der Wahl

Seltsam, so ein schwarzes Gewand! Ohne Hilfe aus dem Fundus wäre es ihr wohl kaum gelungen, rechtzeitig im geforderten Aufzug am vereinbarten Ort zu erscheinen. Und doch hätte sie wohl besser eine andere Route gewählt, dachte Angela Merkel, als sie durch das kleine, von einem gitterartigen Stoff verhängte Sichtfenster ihres Kleides blickte. Die Wachen vor der britischen Botschaft hatten ihre lockere Haltung aufgegeben; vom Tor her fasste sie ein mit einer Maschinenpistole bewaffneter Aufpasser in den Blick. Dabei sprach er leise und schnell in sein Funkgerät.

In mehreren Fenstern der Botschaft ging das Licht an, und weiße Scheinwerfer verwandelten den Vorhof des Gebäudes in die unwirkliche Szenerie eines Drehorts. Von links her schlenderte ein Polizist heran und baute sich vor ihr auf. Das ganze Programm: Schnauzbart, Kampfanzug, Bürstenschnitt. Sie blieb stehen: "Na, junge Frau, ham wer schon wieder Fasching? Oder geht's nach Hause, pardon, ich meine natürlich nach Harem?" Er lachte derbe über seinen unlustigen Witz. Doch seine hellen Augen blickten wachsam und kühl.

Ein zweiter Polizist gesellte sich zu seinem Kollegen. "Ach, lass sie doch in Ruhe, Silvio", sagte er, "die hat's schon schwer genug mit ihrem Fummel." Der Schnauzbart grinste. Langsam beugte er sich vor und starrte direkt in das Sichtfenster der vermummten Gestalt vor ihm. Obwohl Merkel wusste, dass er sie durch den Stoff der Burka unmöglich erkennen konnte, wurde ihr kalt.

"Als Frau muss man mehr Gelassenheit zeigen", dachte sie und unter ihrem Gewand krallten sich ihre Finger um das Schweizer Messer, "und dann zuschlagen." Doch sie hielt sich zurück, dachte an früher: "Mein Vater musste Ziegen melken lernen, und meiner Mutter wurde von einer alten Frau beigebracht, wie man Brennesselspinat macht." Das half. "Ich gehe meinen eigenen Weg", sagte sie sich, und da war sie wieder, die Gelassenheit, die sie so sehr brauchte. Trotz ihrer Angst musste sie lächeln über ihre wirklich seltsame Lage. Der Polizist vor ihr kniff die Augen zusammen, zögerte. Sein Interesse verlosch wie eine Kerze nach einem Windstoß. Er ließ einen dicken Faden Spucke direkt vor ihr auf den Boden tropfen. Dann war es vorbei. Sie war durch.

Sie querte die Behrenstraße. Ruhig lag der südliche Teil der Wilhelmstraße vor ihr. Hier kümmerte sich niemand um sie. Außer den beiden verspäteten Touristen, von denen einer einen riesigen Sombrero trug, die auf der anderen Straßenseite hinter einem dieser neumodischen allradgetriebenen Großautos verschwanden, konnte sie niemanden sehen. Dann stand sie vor dem Haus mit der Nummer 65. Sie besann sich auf das Codewort, schob die Hand aus dem Gewand und drückte auf den Klingelknopf. Zehn, zwanzig Sekunden verstrichen.

"Wer ist da?" schallte es in kehligem Deutsch durch die Sprechanlage. "Ich bin ich", sagte Merkel, und sie merkte, dass ihre Stimme, so kurz vor dem Ziel, doch ein wenig zitterte. "Wovon leben wir?" fragte die Stimme. Genau nach Plan. Merkel antwortete korrekt: "Wir leben von der Substanz." - "Ah, wunderbar! Operation Substanz! Kommen Sie rein! Substanz holen, Frau!" dröhnte es freundlich aus der Sprechanlage, und mit einem lauten Quietschen sprang die Tür auf. "Nichts ist schlimmer als ein kreischender Ton", dachte etwas in Merkel.

Aber sie fasste sich ein Herz. So kam es, dass Angela Merkel, Spitzenkandidatin der Christlich Demokratischen Union, am frühen Morgen des letzten Tages vor der Wahl zum deutschen Bundestag in eine schwarze Burka gewandet das Gebäude der afghanischen Botschaft in Berlin betrat. Sie schloss die Tür des engen Fahrstuhls hinter sich und drückte auf den Knopf für den dritten Stock. Ruckelnd setzte sich der altersschwache Lift in Bewegung.

*

Mayer feixte. Er hieb seinem Kollegen Hartmann den Ellbogen in die Seite, dass ihm die Luft wegblieb. "Siehst, sie ist pünktlich", sagte er leise. "Ja, was denkst denn du?", erwiderte Hartmann und rieb sich die schmerzenden Rippen. Mühevoll hatte er sich gerade erleichtert, und ebenso mühevoll knöpfte er sich die Hose zu. Fast hätte er sich nass gemacht. Hartmann hatte längst genug von der primitiven Art seines Kollegen. Nur ein blindes Schicksal konnte Mayer aus seiner niederbayerischen Heimat hierher in die Hauptstadt und an seine, Hartmanns Seite verschlagen haben. Gnädig hatte es sich jedenfalls nicht gezeigt, zumindest nicht für ihn, Hartmann.

Aber so war es immer gewesen: Der Mensch denkt, das LKA lenkt. Obwohl sie auf eine erfolgreiche Bilanz im Spezial-Einsatz zurückblicken konnten. Auch dieses Mal würden sie beim Chef Punkte machen, dachte Hartmann. Genug für den versprochenen Extra-Bonus.

Vor seinem inneren Auge nahm das Grundstück am Starnberger See Gestalt an. Mit Pool, dachte er sehnsüchtig und blickte hinüber zu dem Plattenbau. Zwei Carports, dachte er, und im Keller das verschwiegene Studio für die besonderen Spiele. Er kratzte sich an der Nase. Er sah, wie gegenüber, oben im dritten Stock, die Lichter angingen. Dann ging alles sehr schnell. Ein hellgrüner Golf Turbo schoss aus Richtung Süden heran und kam mit kreischenden Bremsen auf dem Gehsteig vor der Botschaft zum stehen. Eine Gestalt in einem roten Gewand sprang heraus und eilte ins Haus: "Jesses, was soll denn das?" fragte Mayer: "Ein Umhang ist wohl genug!" rief er. Tatsächlich war die Golffahrerin vom Kopf bis zu den Füßen in eine rote Burka gehüllt.

"Da stimmt was nicht", knurrte Hartmann. Adrenalin strömte in seine Adern. Er blickte zu Mayer hinüber und zog seinen Sombrero in die Stirn. Sie griffen unter ihre Jacketts und spurteten über die leere Straße. Außer Atem stellten sie sich rechts und links der Haustür auf. Mayer reckte den Daumen der linken Hand, kniff ein Auge zu und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Wenn er nur nicht so blöd wäre, dachte Hartmann genervt und schob die Hand in sein Schulterhalfter. Der Stahl der Waffe fühlte sich gut an. Kühl. Irgendwie beruhigend, dachte Hartmann, und wieder dachte er an seinen Keller mit dem Studio. Bald wäre das hier vorbei, dachte er. Starr wie zwei griechische Atlanten standen Hartmann und Mayer rechts und links der Eingangstür, still, als lauschten sie nach innen. *

Fünf Meter, schätzte sie. Vielleicht auch sechs. Mehr hatte der Fahrstuhl nicht geschafft, bevor er mit einem Knirschen stehenblieb. Es galt, Ruhe zu bewahren. Angela Merkel wandte den Kopf und blickte um sich. Über ihr funzelte ein schummriges Notlicht. Graue Wände aus stumpfem Stahl. Ein Graffiti in einer ihr unbekannten grünen Schrift warb für Allah oder vielleicht auch für Coca Cola. Heute war alles möglich.

Merkel klappte den Schleier aus dem Gesicht. Nur dass dies ein Zufall war, konnte ihr niemand weißmachen. Sie hörte leise Schritte die Treppe hinauf eilen. Sollte sie um Hilfe rufen? Und was dann? Auch aus einem steckengebliebenen Fahrstuhl musste es einen Ausweg geben. Sie machte einen Schritt zur Seite, verlagerte ihr Gewicht nach rechts, dann zurück nach links. Der Fahrstuhl schwankte.

Die fremden Buchstaben schienen sie zu verhöhnen. Als wüssten sie die Lösung, weigerten sich aber, sie preiszugeben. Merkel starrte auf das Graffiti. Mit dem Zeigefinger zog sie den ersten Buchstaben nach. Oder war es der letzte? "An der Realität kommt niemand vorbei", murmelte sie halblaut. Aber auch in einem festhängenden Fahrstuhl steckten Möglichkeiten, Optionen. Varianten. Erstens: Sie konnte versuchen, das Modell DDR Baujahr 1969, instand zu setzen. Der physikalische Weg. Mechanisch kramte sie ihren Lippenstift aus der Tasche. Sie dachte zurück an das Institut in Adlershof. Jahre unter der Käseglocke der Geschichte. Warm war es ihr vorgekommen damals, manchmal sogar geborgen. Aber ohne Frischluft von außen. Kaum anders als ein Tag in der Burka, dachte sie, ein unwirklicher Dornröschenschlaf. "Mit dem Löten hatte ich Schwierigkeiten." Sie schraubte den Deckel ab und zog sich nachdenklich die Lippen nach: "Und meine Schaltpläne haben in der Praxis meistens nicht funktioniert." Sie war zurück in der beengten Gegenwart. Reparieren schied aus. Sie schmierte ein rotes X durch das Graffiti. Es blieb nur Möglichkeit zwei. Sie stemmte sich gegen die Rückwand des Fahrstuhls, atmete tief durch. Dann holte sie aus.

Fortsetzung morgen!

Hans-Joachim Neubauer ist Journalist und Autor mehrerer Bücher, darunter "Fama - Eine Geschichte des Gerüchts" und "Einschluss. Bericht aus einem Gefängnis". Er arbeitet als Redakteur im Berliner Büro des "Rheinischen Merkur".

Der vollständige Roman erscheint unter: Der Fluch der Urne. Politthriller. Karin Kramer Verlag Berlin ca. 74 S., broschur, ca. 7 Euro. ISBN 3-87956-305-5

© Hans-Joachim Neubauer

Veranstaltungen und Handverkauf über www.goldmag.de www.karin-kramer-verlag.de

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