Vorschlag-Hammer:Sakrosankt

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Mark Padmore hat die Rolle des Evangelisten in Bachs "Johannes-Passion" ungefähr 200 Mal verkörpert. In einem Interview wurde er einmal gefragt, ob es da nicht irgendwann den Punkt gebe, an dem er der Partie nichts Neues mehr hinzufügen könne

Von Egbert Tholl

Über Mark Padmore, einen äußerst unprätentiösen Sänger, der in dieser Saison "Artist in Residence" beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist, ist im Programmheft des letzten Konzerts - Mozarts Requiem - zu lesen, er habe den Evangelisten in Bachs "Johannes-Passion" mehr als 200 mal verkörpert. In diesem Programmheft wird Padmore gefragt, ob es da nicht irgendwann den Punkt gebe, an dem er der Partie nichts Neues mehr hinzufügen könne. Padmore antwortet darauf mit einem Zitat von T. S. Eliot und der Erkenntnis, dass großartige Musik unbegreiflich bleibe, er sie als größer als sich selbst empfinde und die Entdeckungsreise bei einem Stück wie die "Johannes-Passion" nie zu Ende gehe.

Vor ein paar Tagen habe ich in unserer Redaktion mit einer Kollegin über eine Sache gesprochen, die mich umtreibt, seit ich diesen Beruf ausübe, wahrscheinlich noch viel länger. 20 Jahre und keine Antwort. Wenn Padmore 200 Mal die "Johannes-Passion" aufgeführt hat, dann mit vielen verschiedenen Sängerkollegen, Orchestern, Dirigenten. Und alle haben sie miteinander das aufgeführt, was seit 1724 in den Noten steht. Mal werden sie es schneller, mal langsamer gemacht haben, mal Wert auf die eine oder andere Nuance gelegt haben, mal die Balance zwischen Evangelist und Orchester in die eine oder andere Richtung verschoben haben, etc. Aber nie werden sie grundsätzlich etwas an der Musik verändert haben.

Warum nicht? Warum ist am Theater etwas selbstverständlich, was man in der Musik nicht macht? Ist Goethes "Faust" weniger autonomes Kunstwerk als eine Bach-Passion? Ist die Musik heiliger, weil Hegel sie als höherstehend als die Dichtung empfand? Führte man dramatische Klassiker so auf wie in der Musik die sakrosankten Meisterwerke, müsste ein "Faust" in Bremen solange dauern wie in Augsburg. Tut er aber nicht.

Vielleicht kann mir das mal jemand erklären, so, dass ich es verstehe. Vielleicht wäre Padmore genau der richtige für diese Frage. Der führt nächste Woche zusammen mit Mariss Jansons und dem Symphonieorchester des BR A Padmore Cycle auf, ein Stück, das Thomas Larcher für ihn komponiert hat. Erst in München, dann in der Elbphilharmonie. Immer gleich?

© SZ vom 13.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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