Vorschlag-Hammer:Rhythmus der Zeitzeichen

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Wenn die Alltagsroutine pausiert, sieht man plötzlich, wie die Zeit verstreicht. Auch der neue Roman des britischen Autors Jon McGregor nutzt diesen Effekt

Kolumne von Christian Jooß-Bernau

Die Geschichte begann vor Jahren. Es war wohl eine undichte Silikonfuge im Bad. So kam Tropfen zu Tropfen. Im Oktober bemerkte der Nachbar unter uns einen Fleck an der Decke. Da ging es los. Auszug. Die Adventszeit zog vorüber. Es schneite. Umzug. Weihnachten ohne Baum. Gulasch. Neujahr. Fischsuppe. Umzug. Ein Holzofen. Erste Krapfen. Die Tage wurden länger. Eine Ahnung von Frühling weht durch die Fenster herein. Im Moment hat unsere Wohnung keinen Boden, Balken werden ausgetauscht. Wir sitzen in der dritten Ausweichwohnung. Unser Leben hat einen verblüffenden Nebeneffekt. Der Routine enthoben, sehen wir der Zeit, diesem mausgrauen, unauffälligen Ding, beim Verstreichen zu.

Speicher 13 heißt der jüngst bei Liebeskind erschienene Roman des Briten Jon McGregor. Auf einem Spaziergang urlaubender Eltern in Mittelengland verschwindet die 13-jährige Tochter Rebecca. Die Jahre vergehen. Dachse paaren sich, der Farn wuchert, die Cooper-Zwillinge werden geboren, Richards Mutter stirbt. So geht das über Hunderte Seiten. Und doch scheint keiner dieser Sätze banal, glaubt man immer wieder hinter den Mustern des Alltags den Schatten des Kindes zu sehen, und ausgehend vom ersten Entsetzen entrinnen die Tage, Wochen, Monate, Jahre mit nervenzehrender Stetigkeit. So hat der Rhythmus der Zeit etwas Hypnotisches, ähnlich dem Kreisel in der Ausstellung des Kolumbianers Oscar Murillo im Haus der Kunst. Er dreht sich auf dem Bildschirm eines am Boden stehenden Fernsehgerätes, und ich wollte nur schnell den Moment abwarten, in dem er umkippt. Der schwarze, im Raum gestapelte und aufgehängte Stoff roch ölig schwer - die Muffigkeit überlagerter Geschichte. Der Kreisel kippte. Ich wollte weitergehen, da ruckelte er, eierte, richte sich auf und begann rückwärts zu tanzen. Es wird niemals enden. Es war frustrierend. Drückende Schwere formt diesen Raum, der einen nicht loslassen will.

So wie das Zeit-Mantra, das seit ein paar Tagen in meinem Kopf kreiselt: "Everything is now / Everything is different / now", singen Belle and Sebastian auf "How To Solve Our Human Problems". Freitag, 16. Februar, erscheint das Album, das sie bis dahin auch auf drei EPs veröffentlichen. Am Erscheinungstag spielen sie in der Muffathalle. Ich hatte Belle and Sebastian als fade Band abgespeichert. Zu Unrecht. In rückwärtsgewandten Zeiten wirkt Pop bei ihnen als Kunst, die den Moment ewig erscheinen lässt. Das Münchner Duo Black Patti begreift dagegen die Vergangenheit als Ort, an dem die Gegenwart gut aufgehoben ist. Am Donnerstag, 1. Februar, spielen sie von 19.30 Uhr an Blues und Unterhaltungsmusik, die von den ersten Tagen der Tonaufnahmen träumt. Ihr Album "Red Tape" hatte ich Anfang Oktober besprochen. Da wussten wir noch nichts von unserem Wasserschaden. Es scheint Jahre her zu sein.

© SZ vom 01.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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