Mit der begehbaren Kunstinstallation "O.R.Pheus" brachte Evelyn Hribersek vor fünf Jahren die Wirklichkeit ins Wanken. Allein gelassen tastete sich der Besucher in einem Bunker unter dem Alten Botanischen Garten von Kammer zu Kammer. Ich erschrak vor Behandlungsstühlen, deren unbekannter Zweck ebenso paranoide Gedanken auslöste wie dazugehörige Utensilien, eine pinkfarbene Flüssigkeit in einer Badewanne und wie Rinderhälften aufgehängten Riesenkokons. Noch mehr verstörte mich aber das Smartphone, das man am Eingang ausgehändigt bekommen hatte. Denn dieser Universal-Kompass durch die moderne Welt zeigte auf seinem Display zwar ein Kamerabild der Umgebung, schummelte aber auch eigene geisterhafte Dinge, Wesen und Töne hinein - Virtualität und Wirklichkeit verschmolzen. Damals lernte ich den Begriff dafür: Augmented Reality. Spätestens seit Millionen Menschen mit ihrem Handy durch die Straßen irrten, um nach virtuellen Monstern zu suchen, kennt das jeder.
Ich habe mich neulich an der neuesten Variante versucht: MVG Rad. Das geht so: Auf dem Handy zeigt einem die MVG App die Standorte von Miet-Fahrrädern an. Ich suche also querfeldein, wo pulsierende Icons ein Rad anzeigen, die Realität aber radlos ist. Oder ich finde zufällig ein Rad, das aber meine App nicht kennt, ich also nicht mieten kann. Also suche ich weiter. Immer meinem blinkenden Standort-Punkt auf der virtuellen Karte nach, führen mich verheißungsvolle Zeichen zu Baugruben, wo in Zukunft Straßen sein sollen. Immer wieder stolpere ich über gelbe "O'bikes" des Konkurrenz-Unternehmens, Massenware, die ich in ihrer Kümmerlichkeit liegen lasse wie Pokemon-Go-Süchtige die elenden Pikachus. Ich will einen raren Mewtu, Zapdos oder Entei erjagen. Und ja, endlich finde ich eines: ein MVG-Rad. Auf halb aufgepumpten Reifen und mit krachender Gangschaltung strample ich erschöpft aber stolz davon.
Klar, ich könnte auch zetern und hadern wie der Stadtnörgler Harry G im Circus Krone (9. Oktober). Aber erstens genoss ich die erforschten Gegenden, wo RTL II Reportagen wie "Zoten, Zoff und Zockerbräute - die brutalesten Spielhöllen Münchens" drehen würde. Der pfiffige Reality-Rapper Romano (2. November, Strom) führt ja auch in seinen tollen Videos weg vom falschen Bling-Bling in die "Kinderparadiese" der Satellitenstädte.
Wenn ich wirklich abdriften will, dann gehe ich zu Deva Premal in den Circus Krone (17. Oktober). Die in allen Yoga-Studios der Welt verehrte Fränkin singt Mantras so unwirklich schön, dass man nach hundert Wiederholungen in ferne Sphären von Shiva und Shakti eintaucht. Das wird wahrscheinlich nur übertroffen von Eurydike, Evelyn Hriberseks Nachfolgeprojekt in der Alten Feuerwache (10. Oktober bis Ende November) - wo man wieder ganz allein zum Helden eines Computerspiels wird.