Vorschlag-Hammer:Expedition zwischendurch

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Es ist manchmal gar nicht nötig, die Stadt zu verlassen, um abenteuerliche Reiseerfahrungen zu machen

Kolumne von Christian Jooß-Bernau

Mit dem Rad unterwegs durch München wurde ich an die Grenzen meines Orientierungssinns geführt. Die sind, zugegeben, fix erreicht. Die Zoologische Staatssammlung liegt, von mir aus gesehen, rechts hinter Nymphenburg in der Münchhausenstraße 21, in der ich nicht auf Anhieb suchen würde. Hier zu sehen ist noch bis Mitte September die kleine Ausstellung Der Ritter und seine Affen. 200 Jahre nach der Brasilien-Expedition von Spix und Martius. 2017 segelten der Zoologe Johann Baptist Spix und der Botaniker Carl Friedrich Philipp von Martius nach Brasilien, um, wie man so sagt, Land und Leute kennenzulernen. Was sie kennenlernten, war beispielsweise die Kriebelmücke: "Keine Worte reichen hin, die Qual zu beschreiben, welche dieses furchtbare Insekt über den Reisenden verhängt, wo es in dichten Schwärmen auf ihn niederfällt." Die Reise muss noch aufreibender gewesen sein, als eine Radfahrt nach Nymphenburg. Mit nach Hause brachten Martius und Spix zwei Indianerkinder, was aus heutiger Perspektive wohl den Tatbestand des Menschenraubs erfüllt. Ihre naturwissenschaftliche Sammlung blieb dagegen wegweisend für die Forschung. Eigenwillig sind vor allem ihre Affen, die man in der Ausstellung ausgestopft und gezeichnet sieht. Für den Transport wurden sie abgebalgt. In Deutschland setzten Präparatoren die Tiere mit Phantasie neu zusammen, was zu erstaunlich schauderhaften Ergebnissen führte.

"Die Welt in ihrer Realität, ihrer Konkretheit, ist unsichtbar und nicht darstellbar, aber ein Versuch ist immer möglich", schreibt der französische Autor Oliver Rolin in seinem bei Liebeskind erschienenen Buch Baikal-Amur. Gemeint ist die Eisenbahnmagistrale, die sich über mehr als 4000 Kilometer durch Sibirien zieht. Ich liebe Reisereportagen auch, weil sie mich manchmal an Orte führen, die ich real und konkret nicht so genau kennenlernen will. Rolin fährt durch ein Reich von gigantischen Dimensionen, in dem man verloren geht. Wie ein Furnier liegt die Zivilisation über der Landschaft. Fast jeder Schienenkilometer führt über Leichen. Die Erinnerung an den stalinistischen Terror, Gulags und Zwangsarbeiter wird kaum gepflegt, lastet aber wie ein Albdruck auf den Menschen. Rolin verdichtet die Stimmung durch den Rückgriff auf die Werke meist russischer Literaten - sie sind Verstärker und Kontrast.

Reisen ist immer auch ein Erkenntnisexperiment, bei dem man oft nicht sagen kann, wo Bildung aufhört und Einbildung anfängt. Fragende Blicke. Neun Zugänge zu ethnografischen Fotografien heißt die Ausstellung, die die Besucher durch das Treppenhaus des Museums Fünf Kontinente begleitet, das an sich immer eine gute Wahl für die kleine Expedition zwischendurch ist. Wer das Fremde betrachtet wie ein Entomologe und hofft, sein Wesen durchleuchten zu können, der verkennt seine Lage: Das Fremde blickt zurück.

© SZ vom 25.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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