"Von Not nach Elend":Der Landrat hat so kleine Augen

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Ein Drama: Journalist Günther Lachmann reist durch das alternde und entvölkerte Deutschland und haucht Begriffen wie Geburtenknick, Überalterung und Beschäftigungslücke Leben ein.

Eva-Maria Träger

Verlassene Fabrikhallen, demolierte Büros, verwaiste Pausenräume - die traurigen Arbeitsruinen finden sich nicht selten im Abseits, auf dem Land. Erfüllen sich die Prophezeiungen des Journalisten Günther Lachmann, werden sie in Zukunft immer mehr werden - und neben verlassenen Wohnblocks, zerfallenden Kindergärten und zuwuchernden Bauernhäusern zunehmend das Bild kleiner Gemeinden prägen. Bis zum Jahre 2050, warnt Lachmann, droht ganzen Landstrichen die Entvölkerung. Das Szenario, das der Autor in seinem Buch "Von Not nach Elend" entwirft, ist düster.

Schon auf den ersten Seiten macht Lachmann klar, worum es geht: Deutschland sterbe einen "leisen Tod", der "übers Land kriecht" und in die deutsche Landkarte "Narben reißen" werde; die Landstriche würden "ausbluten" zu "Orten ohne Erinnerung". Mit diesen dramatischen Worten beginnt die "schockierende Reportage" über den demographischen Wandel in Deutschland. Der Autor sorgt sich ernsthaft um den Fortbestand der deutschen Heimat, unter der er vor allem die dünn besiedelten Orte auf dem Lande versteht. Lachmann will vor allem diejenigen zu mehr Bewusstsein und Verantwortung ermahnen, die ihren dort gelegenen Geburtsorten achtlos den Rücken kehren, um ihr Glück in den "wachsenden Metropolregionen" zu suchen.

Interview mit der Dorfjugend

Für diese Mission hat der selbst provinzgeprägte, in Papenburg im Emsland geborene Lachmann keine Mühen gescheut. Er hat Deutschland von Norden nach Süden, von Osten nach Westen mit seinem Auto durchkurvt, sich nach Eggesin, Borken, Otersen und Sangershausen durchgeschlagen, den Sorgen von Kleinststadt-Bürgermeistern gelauscht, die an Bushaltestellen herumlungernde Dorfjugend interviewt, mit besorgten Kindergärtnerinnen, Pfarrern, Mitgliedern des Harzclubs e. V. und dem bayerischen Finanzminister und CSU-Vorsitzenden Erwin Huber gesprochen. Kurzum: Lachmann versucht, den stummen Zahlen, die zusammen mit Begriffen wie Geburtenknick, Überalterung, Beschäftigungslücke und Abwanderung durch die Medien geistern, Leben einzuhauchen, ihnen Gesichter zu geben.

Stellenweise funktioniert das ganz gut. Wer eine mit Zahlen gefütterte Fortsetzung von Florian Illies' "Ortsgespräch" erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Zwar bemüht sich Lachmann, auch die Mentalität der Menschen einzufangen, die sich Großstädten verweigern und Tag für Tag die Folgen der Landflucht erleben; sein Fokus liegt allerdings darauf, historische, wirtschaftliche und politische Ursachen und Konsequenzen miteinander zu verweben und so auf Versäumnisse und Zukunftsaufgaben für die Gemeinden hinzuweisen.

Wunsiedel wird Greisstadt

So erfährt man vom Tourismus, der den Harz zugunsten des Auslands verlassen hat, von dem damit einhergehenden wirtschaftlichen Desaster und Bevölkerungsschwund, von den Nachwuchsproblemen der Freiwilligen Feuerwehren, den Engpässen bei der medizinischen Versorgung, den immer länger werdenden Wegen zu Verwaltungsstätten, Krankenhäusern, Supermärkten und den Beschwerlichkeiten für die immer älter werdende Bevölkerung. In die Sächsische Schweiz sollen schon Wölfe und Elche zurückgekehrt sein. Die bayerische Kreisstadt Wunsiedel macht aus der Not eine Tugend und wandelt sich nach Vorbild der amerikanischen Senioren-Stadt Sun City in eine "Greisstadt" - inklusive abgesenkter Bordsteine.

Das alles ist so alarmierend wie interessant. Aber: Irgendwann reicht es. Zu diesem Gefühl des Lesers tragen auch die nicht immer hilfreichen Reportage-Elemente bei, die Lachmann vor allem im ersten Teil "Von Orten und Menschen" gerne einsetzt: Landschaftsbeschreibungen, mühsame Anfahrtswege, nur scheinbar Intimität herstellende Eigenschaften der Protagonisten. Was tragen beispielsweise die "kleinen Knopfaugen" des Landrats des Örtchens Forst an der polnischen Grenze zum Thema bei? Hinzu kommt, dass am Ende alle schrumpfenden Gemeinden doch unter ähnlichen Defiziten leiden, sodass sich sowohl die Probleme und Dramen als auch Lachmanns Formulierungen zwangsläufig wiederholen.

Der zweite Teil des Buches, "Orte und Daten", liefert dann noch einmal ausführliche Zahlenbelege. Diesem gründlich im Fließtext referierten Datenhagel hätten vielleicht einige sprechende Schaubilder gutgetan.

Identitätssuche

Die Polemik, die Kritiker Lachmann schon bei seinem vorangegangenen Buch "Tödliche Toleranz" (2005) attestierten, ist auch in "Von Not nach Elend" spürbar. Lachmann hat ganz offensichtlich eine Mission. Sein Thema scheint der wie auch immer geartete Verlust von Heimat zu sein. Auch "Tödliche Toleranz" beschäftigte sich mit der Identitätssuche der Deutschen; damals übte der Welt-Korrespondent Kritik am laxen Umgang der Deutschen mit Islam und Muslimen in unserer "offenen Gesellschaft" und erklärte Integration und multikulturelles Miteinander für gescheitert.

Aller Entschiedenheit zum Trotz ist "Von Not nach Elend" kein Plädoyer fürs Landleben. Denn die Lust auf einen Umzug aufs Land vergeht einem bei der Lektüre gründlich. Wer sich für positive Beispiele der wirtschaftlichen Entwicklung auf regionaler Ebene interessiert, dem sei als Ergänzung Neuland empfohlen. Dieser vierteljährlich erscheinende Ableger des Wirtschaftsmagazins brand eins konzentriert sich pro Ausgabe auf eine deutsche Region - aktuell: Ostwestfalen-Lippe. Neuland transportiert das, woran es Günther Lachmann leider gebricht: eine optimistische Haltung.

GÜNTHER LACHMANN: Von Not nach Elend. Eine Reise durch deutsche Landschaften und Geisterstädte von morgen. Piper Verlag, München 2008. 288 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 16.4.2008/ehr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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