Virales Marketing auf YouTube:Die gekaufte Weisheit der Vielen

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Um im Netz aufzufallen, genügt es nicht, über ein Auto zu springen. Die Zauberformel lautet "Virales Marketing". Daraus ist eine eigene Industrie entstanden: Wie Agenturen den Erfolg von YouTube-Videos steuern.

Christian Kortmann

Auch YouTube-Ruhm ist käuflich, und der Preis liegt momentan bei 30 Cent pro Zuschauer. Über Geld reden wir später, zunächst heißt es, den Schock zu verdauen, sollte man noch daran geglaubt haben, dass eine plebiszitäre Auslese auf den Videoportalen die besten der von den Nutzern selbst erschaffenen Clips an die Spitze bringt. Denn die Bilder sehen ja oft so unschuldig aus, als seien sie in die Charts der meistgesehenen Videos gestolpert wie ein knuffiger Welpe ins Rampenlicht der Hundeshow.

Die Virenpandemie

Es beginnt etwa mit Franck Ribéry, der einen Fußball zielgenau und cool in den Mülleimer befördert. Mit ihm ist nur noch Luca Toni in der Umkleidekabine und nimmt sofort das Kräftemessen auf. Bald bespielen die beiden Superstars des FC Bayern München das komplette Stadion ihres Teams, am Ende schießen sie von der himmelhohen Tribüne aus Bälle ins Tor. Als sie gerade aufs Dach klettern wollen, macht der Hausmeister das Licht aus und wirft sie aus dem Stadion.

Toni und Ribéry werden viral

Der Clip ist witzig und gut gemacht, doch dass er momentan auf allerlei Websites zu finden ist und Büroarbeiter sich in der Mittagspause fragen "Hast du schon den Ribéry-Toni-Clip gesehen?", das ist alles andere als Zufall. Denn der Werbeclip für den namensgebenden Sponsor der FC-Bayern-Arena ist gezielt zur Fußball-Europameisterschaft von der Agentur GoViral auf den einflussreichsten Websites in Italien, Frankreich und Deutschland platziert worden.

Ein viraler Werbeclip, in der Branche kurz "Viral" genannt, soll sich über die E-Mail-Adressbücher der User weiterverbreiten, also im Idealfall wie ein pandemischer Virus das Netz befallen. Es ist kein Zufall, dass die Metapher nach biologischer Kriegsführung klingt. "Es geht um die Planbarkeit von Kampagnen", sagt Björn Ognibeni, der GoViral in Deutschland repräsentiert: "Wir können uns nicht auf Glück verlassen." GoViral ist auf Seed & Track (Säen & Verfolgen) spezialisiert. Die Agentur verteilt die Clips im Netz und kann durch "Embedded tracking codes", eingebaute Programme, messen, wie oft ein Clip auf welcher Site angeschaut wurde. Auf der GoViral-Homepage rühmt man sich, täglich fast 800 000 Views, das heißt Abspielvorgänge, zu erzeugen.

Die in 27 Ländern aktive Firma sitzt in London, an ihrer Spitze steht der Däne Jimmy Maymann, der als Guru des viralen Marketings gilt. "Maymann hat das Seeding perfektioniert und es zu einer Industrie gemacht", sagt Henning Patzner, Creative Director bei der Hamburger Werbeagentur Grabarz & Partner.

Telefoniert man mit Maymann, redet der 36-Jährige ohne Atem zu holen, als halte er eine Rede zur Eröffnung eines Fachkongresses. Er hat den Fuß auf dem Gaspedal der Clicks und Views, sein Selbstverständnis ist das eines Meisters des digitalen Universums, der über das Schicksal eines Videos entscheidet: "Wenn du viel Geld investierst, kann ich sehr viele Views generieren." Man bremst, will die Story von Anfang an hören: Was könnten Sie, Jimmy, für meinen Clip tun?

Maymann ist wählerisch, er nimmt nicht jeden Auftrag an. Doch wenn GoViral von einem Clip überzeugt ist, garantiert die Agentur dem Kunden pro 30 Cent einen Abspielvorgang, für 300.000 Euro gibt es mit Rabatt also eine Million Views. Erhofft wird jedoch stets, dass der Clip weit mehr als die garantierte Zuschauerzahl erreicht. GoViral streut den Clip auf den fruchtbarsten digitalen Feldern, indem die Agentur ihr Netzwerk von einflussreichen Bloggern, sogenannte Mavens, und Websites aktiviert, die das Video veröffentlichen. Das ist wesentlich effektiver, als einen Clip nur bei YouTube hochzuladen, wo er im Angebot von täglich 70.000 neuen Videos erst mal untergeht. Doch sobald genügend Links auf den Clip verweisen, schlägt sich das auch in YouTube-Views nieder.

Wer zu den 150 deutschen Mavens gehört, verrät Maymann nicht: Man spricht im Netzwerk nicht über Namen, sondern hat sie in der Kartei. Eigenen Angaben nach soll die Datenbank mehr als 10 000 Kooperationspartner umfassen, aus denen GoViral von Fall zu Fall die mächtigsten Verstärker auswählt. Henning Patzner ist sich sicher: "Bei diesen Kooperationen fließt in jedem Fall Geld."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, mit welchen Methoden man YouTube-Videos in die Charts hievt.

Seinen Namen machte sich Maymann durch einen von Saatchi & Saatchi produzierten Spot für eine Surfmarke: Jugendliche werfen Dynamit in einen Fluss und surfen dann auf der Flutwelle. Der Clip wurde zunächst auf Extremsport- und Surfseiten gesät, um den harten Kern der Szene zu begeistern, bevor man den Zuschauerkreis in den Mainstream ausdehnte: Wer wann über was redet, wird von GoViral genau gesteuert. Im April 2007 war der Clip bereits über zehn Millionen Mal angeschaut worden, und auch außerhalb der Surfszene wurde diskutiert, ob Dynamitsurfen möglich sei.

Dieses Video hat das virale Marketing verändert, wie "Der Weiße Hai" als erster Blockbuster das Kino veränderte. Denn seitdem wünschen sich alle Firmen solch einen viralen Erfolg, wissen meist aber nicht, dass dafür umfassende Maßnahmen notwendig sind. Das Management von T-Mobile, so Henning Patzner, habe noch vor kurzem geglaubt, es genüge, einfach ein Video ins Netz zu stellen. "Früher passierte viel von selbst, als Mund-zu-Mund-Propaganda", sagt Maymann. Heute müsse man mit einer relevanten Botschaft in den Kern der Communitys vordringen, weil dort der Austausch über Themen intensiver sei, als wenn sich die Menschen nur lustige Clips weiterleiteten. Das ist die Lehre aus seinen Dynamitsurfern: Wenn man innerhalb einer Interessengemeinschaft maximale Aufmerksamkeit erzeuge, springe das Thema auf die Gesamtgesellschaft über. "Creating the momentum", nennt Maymann das und spricht den eigentlich recht lapidaren Slogan langsam und deutlich wie eine Zauberformel aus.

Werber betrachten Virals momentan als Königsdisziplin, weil die Konsumenten das Werk freiwillig anschauen, und es nur bei Gefallen weiterleiten. "Manchmal ist das virale Potential so hoch, dass es nur eines Seeding-Schubsers bedarf, um den Clip erfolgreich zu machen", sagt Christian Wilfer von der Agentur Dialog Solutions in Hamburg. Mit Beträgen zwischen 10.000 und 30.000 Euro ließen sich erfolgreiche Clips lancieren. Die strategische Platzierung auf Sites stehe im Einklang mit der sozialen Struktur des Netzes. Denn eine ernstzunehmende Empfehlung zähle mehr als die massive Präsenz auf Seiten wie T-Online.de oder Bild.de. Die Millionengarantie von GoViral ist in Wilfers Augen "unseriös".

Der amerikanische Viral-Spin-Doctor Dan Ackerman Greenberg sorgte mit einem Beitrag im Blog Techcrunch.com für Aufsehen. Unter dem provokanten Motto "Content is NOT king" beschreibt er, wie er für jedes Video 100.000 YouTube-Views generieren könne. Er erklärt genau, wie er die miesesten Filmchen in die Charts beförderte, indem er sie als Spam-Mail an unzählige Adressen schickte, Fake-Diskussionen in Foren auslöste, das Video in den Kommentarfeldern von MySpace-Seiten unterbrachte und es mit "Freunden" bei Facebook teilte.

Er empfiehlt, in den Kommentarfeldern unter Videos "erhitzt mit sich selbst zu diskutieren", und die jedem Clip zugeordneten Suchbegriffe so zu manipulieren, dass die eigenen Videos zunächst gegenseitig auf sich verweisen und später bei Google gefunden werden. "Die Wildwest-Tage von Lonely Girl sind vorbei", schreibt Ackerman Greenberg in Anspielung auf einen frühen YouTube-Star: "Heute wirkliche Viralität zu erreichen, erfordert Kreativität, etwas Glück und eine Menge harte Arbeit."

Luft! Keimfreie Luft!

Christian Wilfer plädiert auch bei Werbung für eine faire und transparente Netzkultur. In Großbritannien sind Virals, die ihre Werbebotschaft verschleiern, seit diesem Monat illegal. Dadurch sollen Konsumenten vor dem Irrtum geschützt werden, sie hätten eine Empfehlung von einem ganz normalen Community-Mitglied erhalten, während sie mit einem getarnten Werber kommunizierten. Jetzt macht sich jeder Blogger strafbar, der wissentlich Virals auf seine Seite stellt, ohne sie als Werbung zu kennzeichnen. Das Einschreiten des Staates belegt den Niedergang einer Form: Weil uns immer mehr Firmen mit Virals bombardieren, gerät die charmante Tarnung zum industrialisierten Kniff und die Frage nach dem Fake-Charakter des Gezeigten zum ermüdenden Effekt.

Ob der Basketballstar Kobe Bryant in ganz tollen Turnschuhen über ein Auto springt, der "Einkaufswagen-Flüsterer" in der Supermarkt-Parkplatz-Prärie unterwegs ist oder ein Videoblogger begeistert Weingummi verdrückt: Man fühlt sich, wenn man bei YouTube nach dem guten Geist der Clip-Kultur stöbert, inmitten des viralen Werbespams bisweilen wie in einem U-Bahn-Waggon während einer Grippewelle: Alle niesen, und man schnappt nach keimfreier Luft.

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