Vater-Sohn-Beziehung:Im Wahn

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Sorj Chalandons Roman "Mein fremder Vater" erzählt von einem Nationalisten, der seinem Sohn seine Wahnwelt aufzwingt.

Von CORNELIUS WÜLLENKEMPER

Sechs Romane hat der französische Journalist und Schriftsteller Sorj Chalandon bisher veröffentlicht, und immer, sagte er unlängst, sei sein Vater die eigentliche Hauptfigur gewesen. Nun legt er mit "Mein fremder Vater" die Quintessenz seines Werkes vor. Erst nach dessen Tod vor drei Jahren habe er den Mut zu diesem nahezu autobiografischen Rückblick gefunden, einem Bericht vom prügelnden André Choulan, der Sohn Émile und Mutter Denise tyrannisiert und ihnen wahnhaft seine Parallelrealität aufzwingt. Die Handlung setzt ein am 23. April 1961, als die OAS ("Organisation de l'armée secrète") einen Putsch gegen Präsident de Gaulle inszeniert, um die anstehende Unabhängigkeit Algeriens abzuwenden. Für André Choulan, der im Pyjama vor dem Fernseher zusieht, wie "Geschichte gemacht wird", beginnt damit endlich der "Krieg gegen die Verräter des Vaterlandes". Während de Gaulle im Abendprogramm die Nation vor den "fanatischen Partisanen" warnt, muss der zwölfjährige Émile seine Treue zur OAS schwören. Zwar hat Émile keinen Schimmer, wo dieses Algerien liegt und was es mit dem Vaterland auf sich hat. Aber er weiß: Um der nächsten Prügelattacke zu entgehen, muss er Teil der Verschwörung sein.

Der psychotische Vater will Olympique Marseille zu Siegen geführt haben, Fallschirmjäger im Indochinakrieg gewesen sein und ein enger Vertrauter von Charles de Gaulle. Als Émile in der Schule den Beruf seines Vaters angeben muss, plädiert er für "Geheimagent", doch die Mutter rät dazu, besser "arbeitslos" anzugeben, "damit niemand nachfragt".

Chalandon zieht seine Leser in diese Parallelwelt hinein, indem er in nüchternen Sätzen aus der Perspektive eines Kindes berichtet, wie der tyrannische Vater das streng abgeschottete Familienuniversum manipuliert. Émile soll den Nachbarn, die "Kommunistensau", ausspionieren, auf dem Schulweg "OAS" an die Wände schmieren, mit einem Walkie-Talkie eine Flugschau "überwachen" und Morddrohungen im Briefkasten eines ungeliebten Abgeordneten hinterlassen. Unversehens muss er dann wieder eine Nacht kniend im elterlichen Kleiderschrank, der "Besserungsanstalt", verbringen, oder Prügel mit der Peitsche über sich ergehen lassen, die er vom eigenen Taschengeld kaufen musste. Wie im Schraubstock dreht Chalandon die verstörende Lebenswelt dieser Familie immer weiter, bis irgendwann die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen.

Steht das Attentat gegen de Gaulle unmittelbar bevor? Welche Rolle genau spielt dabei der Vater? Chalandon lässt diese Fragen im Kopf des Kindes kreisen bis zum Realitätsverlust. Es geht ihm nicht um die große Anklage gegen den Vater, sondern um die nüchterne Beschreibung einer gebrochenen Vater-Sohn-Beziehung. An deren Ende steht zwar nicht die Erlösung, aber immerhin die Möglichkeit, sie zu beschreiben.

Sorj Chalandon: Mein fremder Vater. Aus dem Französischen von Brigitte Große. DTV, München 2017. 336 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 24.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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