Überwachungsprotokolle bei Lidl:Kafka würde bei Lidl kaufen

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"Das 'Verhältnis' zwischen Frau L. und Herrn H. ist zu prüfen": Die an Franz Kafkas Prosa erinnernden Spitzelprotokolle von Lidl zeigen, dass der Denunziant der beste Unternehmensberater ist.

Ijoma Mangold

Was ist das Wesen des Menschen? Eine unglückliche Verknüpfung aus Stoffwechsel, Faulenzerei und Vergnügungssucht. Diese anthropologische Konstante muss jeden Arbeitgeber zum Rasen bringen. Die Protokolle der Schnüffler von Lidl, dieses bedeutenden Dokuments aus der Gegenwart der deutschen Arbeitswelt, zeigen es.

Von Lidl-Chef Dieter Schwarz gibt es nur ein einziges Foto. Doch die beklemmenden Überwachungsprotokolle lassen ohnehin vermuten, dass dieser Mann hinter den Kulissen die Fäden zieht: Franz Kafka (1883-1924), Angestellter und Visionär der zwischenmenschlichen Höllen, würde sich heute wohl sehr für Lidl-Sonderangebote interessieren. (Foto: Foto: AP)

Ein ums andere Mal muss der "Ladendetektiv", wie er sich selbst nennt, notieren, dass eine Mitarbeiterin schon wieder "in aller Ruhe" auf die Toilette geht. Er hat mitgezählt und kann es kaum fassen. Das gibt's doch gar nicht, wie oft so eine Kassiererin muss! Und was passiert als nächstes? Obwohl sich an der Kasse eine Schlange bildet, legt die "Kraft", wie die Mitarbeiter durchgängig genannt werden, schon wieder eine Zigarettenpause ein. Während im Pausenraum noch immer der angeknabberte Sandkuchen von Frau K. herumliegt! Man sieht den Schnüffler förmlich, wie er innerlich kocht. Wäre er der Filialleiter, er zöge andere Saiten auf.

Das Magazin Stern hat in seiner aktuellen Ausgabe weite Teile der Überwachungs-Protokolle, die eine Detektei für die Discount-Kette Lidl angelegt hat, veröffentlicht. Man liest darin voller Faszination, weil einem das menschliche Bestiarium selten so roh und unbemäntelt vor Augen tritt. Die aktiv-denunziatorische Rolle, die der "Ladendetektiv" voller Hingabe einnimmt, wirft ein grelles Licht darauf, wie Menschen gemäß ihren unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnissen miteinander umspringen. Da wird die Wirklichkeit in ihrer nicht auslotbaren Mischung aus Banalität und Drastik zur Szene des Absurden Theaters: "Freitag, 18,30 Uhr: Seit Mittwoch liegt nun unübersichtlich eine geschlossene große Packung Milka ,I love Milka' ganz oben auf den angebotenen Damenbinden."

Mit untrüglichem Spürsinn ist der Schnüffler der natura corrupta des Menschen, seiner Tendenz zu Schlamperei, Schlendrian und absichtsvoller Minderleistung auf der Spur: "Donnerstag, 14,50 Uhr: Frau T. telefoniert mit ihrem Freund, es geht um das gemeinsame Abendessen. Obwohl sie weiß, dass der Markt gut besucht ist und noch diverse Arbeiten zu erledigen sind, verspricht sie ihm, pünktlich Feierabend zu machen, was sie dann um 15 Uhr tut."

Diese Protokolle erhalten einen soziologisch-parodistischen Wert, weil sie auch ein Lehrstück über die Macht der kapitalistischen Phrase sind. Der Schnüffler, dessen Geschäftsgrundlage der Vertrauensbruch zwischen Firma und Angestellten ist, klagt mehr Identifikation mit dem Unternehmen und mehr Teamgeist ein: "Meines Erachtens hat Herr T. überhaupt keine Firmenidentifikation; auch was konkret ein Vorgesetzter ist und bedeutet, scheint er nicht zu wissen oder wissen zu wollen."

Der Schnüffler selbst präsentiert sich als ideologischer Musterschüler, der weiß, wie der kapitalistische Hase läuft, und unermüdlich effektivere Arbeitsabläufe, mehr Mitarbeiter-Einsatz und verbesserte Kundenbetreuung einklagt: "Mittwoch, 14,15 Uhr: Frau C. und Frau S. verlassen die Filiale, um zu einer Schulung nach Braunschweig zu fahren. Beide äußern sich negativ über die anberaumte Schulung, Sinn und Zweck wurden nicht verstanden; beide hoffen, dass die Zeit schnell rum geht, aktive Mitarbeit an der Schulung lehnen bereits beide im Vorfeld ab."

Ja, der Schnüffler ist der wahre Unternehmensberater, ein kleiner, umso brutalerer McKinsey. Vor der Inflexibilität der Mitarbeiter bekommt er, der allen ständig höchst beweglich auf den Fersen ist, das Grausen. Da liegt doch auf dem Kassenförderband ein Karton mit Stafford Filtercigarillos, ohne dass Frau H. die rasch mal verräumt! Am liebsten würde er jetzt selber in die Unternehmensabläufe eingreifen. Aber wenn er Frau H. darauf anspräche, würde die nur antworten: "Ich mache das immer so, warum soll ich das jetzt anders machen." Dabei ist doch klar, dass im modernen Change Management alle Arbeitsabläufe permanent überprüft werden müssen!

Das Herz des Schnüfflers

"Samstag, 16,45 Uhr: Frau L. flucht wie ein Rohrspatz, dass sie nicht pünktlich um 17 Uhr Feierabend machen kann, da sie jetzt noch das Non-Food aufräumen muss." Das ist die engagierte Poesie der Denunziation. Sie entwirft zugleich ein Bild unserer Arbeitswelt, wie es greller und schonungsloser kein realistischer Roman zustande brächte. Indem der "Ladendetektiv" das Lidl-Personal wie strukturelle Straftäter behandelt, gelingt ihm die Wiedergeburt des Kapitalismus aus dem Geist des Verbrechersyndikats: Erst wenn man die Ökonomie als Kriminalitätsmarktplatz begreift, kann man seine Firmenstrategie optimieren.

Aber der Schnüffler hat auch ein Herz für die Sorgen der Menschen. Nur sollten diese nicht auf Kosten des Unternehmens ausgetragen werden: "Frau U. schien mir nicht ganz bei der Sache zu sein, sprich sehr unkonzentriert, liegt vielleicht daran, dass sie diese Woche heiratet. Dann hätte sie allerdings die ganze Woche Urlaub nehmen müssen, wenn sie derart verwirrt ist."

Man hat im Zusammenhang mit dem Lidl-Skandal von Stasi-Methoden gesprochen. In der Tat ähneln sich die Spitzel-Berichte beider Systeme gerade auch in ihrer voyeuristischen Lust, Intimes der Überwachten abzufangen ("Das ,Verhältnis' zwischen Frau L. und Herrn H. ist zu prüfen, die beiden gehen sehr vertraut miteinander um"). Sie sind sich aber vor allem auch im Grad ihrer Lächerlichkeit ähnlich: Dass der Staatssozialismus die Bettgeschichten seiner Bürger ausspionieren musste, war ein Zeichen seiner Schwäche.

Wenn der Kapitalismus auf dieselben Methoden zurückgreift, kann es mit seiner Überlegenheit nicht weit her sein. Man kann darin aber auch eine Rehabilitierung des Individuums sehen. Bisher dachten wir, dass die Systemlogik moderner Gesellschaften so mächtig ist, dass das Innenleben ihrer Individuen dagegen nichts vermag und also vernachlässigt werden kann. Lidl sieht das anders.

© SZ vom 28.03.2008/korc - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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