TV-Kritik: "Sabine Christiansen" neu entdeckt:Der stumme Stuhlkreis

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In Gestengewittern: Am Ende der Amtszeit von Sabine Christiansen enthüllen wir das Geheimnis, wie man sich ihre Talkshow am besten anschaut: Man muss einfach den Ton ausschalten!

Christian Kortmann

Ah, herrlich, Sonntag, 21.45 Uhr, Zeit für "Sabine Christiansen", die beste Pantomimikshow, die es im deutschen Fernsehen gibt. Seit der zweiten Ausgabe der Talkshow im Jahre 1997 schalte ich den Fernseher für diese eine Stunde pro Woche stumm. Mit dem Heranrollen des zur blauen Weltkugel stilisierten Studios setzt wie ein Pawloscher Reflex die finale Wochenenderholung ein: Ruhe draußen, Ruhe auch in der Wohnung, und auf dem Bildschirm Menschen, die ihre Gedanken gekonnt in Gesten und Mimik darstellen.

Ich erinnere mich an wunderbare Momente: Christiansens historisches, erstes Beineübereinanderschlagen in den späten 1990ern, die Einführung ihrer Lesebrille zur Erweiterung des Gestenrepertoires, Christoph Schlingensiefs beredtes Schweigen zum Thema Arbeitslosigkeit oder Guido Westerwelles visuell komprimierte Kanzlerkandidatur mit der "18" auf seiner Schuhsohle.

Die zahlreichen schlechten Kritiken, die Christiansen im Jahrzehnt ihres Schaffens fleißig sammelte wie eine Sextanerin Einträge ins Poesiealbum, bezogen sich ja nur auf die Tonspur. Optisch war immer alles prima. Völlig zu recht also hielten die ARD-Granden an ihr fest, weil sie eben wissen, was wir Zuschauer am Sonntagabend brauchen: ein helles, freundliches, weitläufiges Studio, in dem korrekt gekleidete Menschen in einem stumpfen Halbkreis sitzen, dessen Offenheit suggeriert: Komm, setz' dich einfach dazu!

Raumgreifendes Rudern

Nur Köpfe und Arme bewegen sich, keinerlei sonstige Action, vom ein oder anderen Kameraschwenk zum Statement aus dem Publikum abgesehen. Im Hintergrund nächtlich beleuchtete Hauptstadtarchitektur und warme Holz- sowie beruhigende Blautöne der Studiokulisse. Stummgeschaltet ist "Christiansen" die Fortsetzung der schönen ARD-Nachtmeditationsreihe "Z.E.N.": Zuschauen, Entspannen, Nachdenken.

Das Ritual beginnt mit dem Erraten des Themas: Am Sonntagabend war Ilja Richter zu Gast - würde es also um den Eurovison Song Contest gehen? Aber neben ihm saß die SPD-Politikerin Renate Schmidt, aha, also irgendein Thema rund um "Gedöns". Prompt wurde hinter Sabine Christiansen "Ist die Pflege ein Pflegefall?" eingeblendet. Sicher, dachte ich wie so oft, wichtiges Thema, aber harter Stoff für den Sonntagabend, wie gut, dass ich nicht zuhören muss.

Schmal, in weißem Oberteil und dunklem Kostüm, saß Christiansen da und moderierte lächelnd und mit schwingendem Oberkörper ihre Talkshow an. Dann stellte sie die Gäste vor, die ob der einführenden Worte allesamt gemächlich nickten:

- Renate Schmidt, knallrotes Jackett, Perlenkette, ist im SPD-"Gedöns"-Ausschuss, massive Gestik, mal nur ein Dirigieren mit der rechten Führhand, mal beidarmiges Hacken;

- Carola Ferstl, moderiert im Fernsehen, persönlich vom Pflege-Thema betroffen, pflegte Angehörige daheim, hielt die Hände nah am Körper, schüttete bildlich ihr Herz aus, sprach hauptsächlich von sich;

- Ingo Kailuweit, hager, dünnes Haar, randlose Brille, Versicherungstyp, erinnert an den Oberschurken im ersten "Matrix"-Film, aha, "Vorstandvorsitzender der KKH", seine linke Hand kreiste, ansonsten vorbildliche Zurückhaltung wie in einem Kundengespräch;

- Detlef Rüsing, "Ex-Altenpfleger", jetzt "Pflegewissenschaftler", Anzug, keine Krawatte, mittellanges Haar, eher zurückhaltender Typ, Sabine Christiansen musste ihn wiederholt mit Schiebegesten der linken Hand (als würde sie ein Sprachrohr rüberschieben) zum Reden ermuntern.

Ilja Richter guckte bei der Vorstellung gespielt gequält. Er war leger gekleidet und ebenfalls als persönlich Betroffener gekommen ("Mutter entschied sich für Altenheim"). Richter kam mit sparsamer Gestik aus, er machte viel mit dem Gesicht, nicht nur beim Reden, auch beim Zuhören. Er hob die Augenbrauen, öffnete den Mund deutlich und nuschelte nicht. Einmal erzählte er wohl eine Anekdote, denn in der Runde wurde gelächelt. Richter hat eine sehr höfliche Gestik, er würde auch gut in einen stummen Zirkel zusammen mit dem Pantomimen Samy Molcho passen, der weiß, was wir an "Sabine Christiansen" haben, und deshalb bereits zu Gast war.

Helmut Wallrafen-Dreisow hat man noch nicht oft im Fernsehen gesehen. Solider Doppelname, was macht man damit? Ist er vielleicht Springreiter? Nein, Pflegeheim-Manager. Er trug Krawatte, grau-meliertes Haar und Dreitagebart, legte schon nach seinem ersten Redebeitrag den Kopf schief und sah die Moderatorin durchdringend an. Er erläuterte eindringlich die Überalterung der Gesellschaft und die sich daraus ergebenden Probleme.

Bei ihm musste Christiansen ab und zu resolut die Beine übereinander schlagen und mit ihren Unterlagen und der freien Hand fuchteln. Es war aber nicht das raumgreifende Rudern, das wir an ihr lieben. Wallraff-Dreisow beobachtete alle anderen skeptisch, wenn sie redeten. Er weiß offensichtlich, was er will, und hämmerte seine Gesten mit vertikalen Schlägen in den Raum und besiegelte sie mit horizontalen Schlussstrichen.

Endstufe Schlafmaske

Christiansens Laune war von Anfang an gut und sie wurde immer besser, als sie merkte, dass es eine ganz entspannt durchzumoderierende Sendung werden würde und sie diesmal nicht wild mit den Armen wirbelnd Frischluft zwischen zwei erhitzte Streithähne fächern musste. Ja, noch nicht einmal die Lesebrille setzte sie ab, so wenig gefordert war sie. Einmal brachte sie mit einem Lachen einen Pflegeheimleiter im Publikum ins Gespräch, und der lächelte zurück, man konnte kurz meinen, Pflege sei ein lustiges Thema, aber dann brachte Wallraff-Dreisow mit gezielten Schlägen den Ernst in den stummen Stuhlkreis zurück.

Nach 45 Minuten wurde es langweilig, denn das Fehlen von großen Gestenkünstlern im Range von Gerhard Schröder, Edmund Stoiber oder Reiner Calmund lässt sich nur schwerlich kompensieren. Man hört nämlich nicht nur manche Menschen lieber reden als andere, sondern man sieht ihnen auch mit unterschiedlichem Interesse dabei zu.

Am Ende, nach der Abmoderation, noch ein freundliches allgemeines Zueinander-Hinüberbeugen, dann war das Wochenende mal wieder vorbei.

Meine Freundin schwört darauf, bei "Sabine Christiansen" nicht nur den Ton auszuschalten, sondern zusätzlich ihre Schlafmaske aufzusetzen. Sie sagt, sie spüre die Diskussion dann als sanft stimulierende Massage im Nackenbereich. So weit bin ich noch nicht und werde in den letzten Wochen von Sabine Christiansens zehnjähriger Amtszeit auch nicht mehr dahin kommen. Ich werde die letzten prasselnden Gestengewitter genießen wie Sommerregen. Und dann, bei Anne Will, habe ich mir fest vorgenommen - zunächst vorsichtig und ganz ganz leise - den Ton wieder einzuschalten.

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