True Crime:Anders tot

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(Foto: Stefan Dimitrov)

Mechtild Borrmann klärt in ihrem neuen Roman den authentischen Kriminalfall der Hamburger Trümmermorde von 1947 auf und gibt den namenlosen Toten eine Identität und Geschichte.

Von Christine Dössel

Bei Mechtild Borrmanns "Trümmerkind" handelt es sich um keinen klassischen Kriminalroman. Es gibt zwar Leichen, jede Menge sogar: Verstümmelte, Erschossene, Verhungerte, Erfrorene - aber das sind Opfer des Zweiten Weltkrieges, vor dessen Hintergrund die Geschichte spielt. Das Verbrechen, das dem Buch zugrunde liegt, ist mithin eines der gewaltigsten der Menschheitsgeschichte. Wenn der Roman einsetzt, ist der Krieg bereits zu Ende, aber er steckt den Menschen noch in den Knochen, und seine Folgen sind überall spürbar.

Januar 1947. In der Trümmerlandschaft Hamburgs sucht der junge Hanno Dietz mit seiner kleinen Schwester Wiebke nach Brauchbarem, das er auf dem Schwarzmarkt verticken kann, und nach Brennholz, damit die Mutter wenigstens kurz mal den Ofen warm kriegt. Der Winter 1946/47 war eisig wie kaum ein anderer Winter in Deutschland, und man bekommt beim Lesen eine Ahnung davon, was das bedeutet. In einem halb verschütteten Keller nimmt Hanno ein Regal auseinander. Da sieht er sie: eine tote Frau. Eigentlich nichts Ungewöhnliches in jenen Tagen, wäre sie nicht nackt, weiß wie Marmor.

In diesem Szenario aus Hunger, Kälte, Not gibt es auch Momente von Wärme und Zusammenhalt

"Er hatte schon viele Tote gesehen", heißt es im Buch. "Ein Toter erschreckte ihn nicht, aber diese Frau war anders. Anders tot." Das lässt den Leser natürlich aufhorchen und schon den Krimiplot wittern. Aber wie gesagt: Einen klassischen Krimiplot gibt es hier nicht. Erzählt wird die Geschichte dreier Familien, deren Schicksale sich kriegsbedingt tragisch kreuzen. Der Mord an der nackten Frau und drei weiteren Opfern, die im Januar 1947 in den Hamburger Trümmern gefunden wurden - ein Mädchen, eine junge Frau und ein älterer Mann, alle unbekleidet und erdrosselt -, wird am Ende, 46 Jahre später, dennoch aufgeklärt. Die Autorin lädt ihre Romanfiktion mit dem authentischen Kriminalfall der sogenannten Hamburger Trümmermorde auf, einer nie gelösten Mordserie von 1947. Der Stoff wurde bereits 2011 von Cay Rademacher in seinem Roman "Der Trümmermörder" verarbeitet, der die Ermittlungsarbeit eines Oberinspektors in diesem Fall beschreibt.

Bei Mechtild Borrmann wird die alte Mordsache nun also endlich gelöst und den namenlosen Toten eine Identität gegeben, mehr noch: ihre Geschichte rekonstruiert. Zumindest fiktional. Und weil Borrmann eine Spezialistin im Aufschlagen düsterer Kapitel der Vergangenheit ist - ihr Roman "Wer das Schweigen bricht", der ebenfalls in die Wirren des Zweiten Weltkrieges zurückführt, wurde ein Bestseller, ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimi-Preis -, wirkt ihre Rekonstruktion durchaus glaubwürdig. Ja, so in etwa könnte es gewesen sein. Ohnehin geht es hier mehr um die Umstände als um die Psychologie eines Verbrechens. Und die Umstände sind fürchterlich. Es ist ein Szenario aus Hunger, Kälte, Not, aus Flüchtlingsschicksalen und Überlebensstrategien.

Die Autorin erzählt die mehrsträngige Geschichte mit nüchternem Aplomb auf drei Zeitebenen, zwischen denen sie hin und her springt: 1945, 1947 und 1992/93. Da ist zum einen die Familie Anquist - mit der Tochter Clara im Zentrum -, die auf ihrem herrschaftlichen Gut in der Uckermark das Ende des Krieges erlebt. Die Anquists werden enteignet und fliehen schließlich vor den sowjetischen Besatzern über Lübeck nach Hamburg, wo sie ihre Übersiedlung nach Spanien planen.

In Hamburg spielt auch jener Strang der Geschichte, der 1947 um die Familie Dietz kreist, deren Sohn Hanno auf die nackte Tote im Keller stößt. Und auf noch jemanden stoßen Hanno und seine Schwester in den Trümmern: auf einen völlig verstörten Jungen, der nicht spricht und zu niemandem zu gehören scheint. Sie nehmen ihn in ihrer Familie auf. Agnes Dietz gibt ihm den Namen Joost und lässt den Kleinen als ihr eigenes Kind registrieren. Das handelt der Frau, die sich mit Näharbeiten für die Engländer ein Zubrot verdient, böse Gerüchte und dann auch noch handfesten Ärger mit ihrem plötzlich aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Mann ein. Aber auch von den schönen Momente im entbehrungsreichen Leben der Dietzens erzählt der Roman: von der Wärme durch Zusammenhalt oder vom Glück eines Stückchens "guter Butter".

In den Kapiteln, die 1992/93 spielen, ist der kleine Joost ein erfolgreicher Architekt, der beruflich zufällig mit dem alten Anquist-Gut in der Uckermark zu tun bekommt. Und auch die Lehrerin Anna Meerbaum aus Köln, laut ihrer Mutter eine Nachfahrin jener Anquists, macht sich auf den Weg in die Uckermark, um einigen Ungereimtheiten in ihrer Familiengeschichte auf die Spur zu kommen. So schließt sich allmählich der Kreis, Puzzleteile fügen sich, die Vergangenheit kommt zu ihrem Recht. Die Unaufgeregtheit, manchmal fast spröde Sachlichkeit in Borrmanns Erzählton tut der Spannung keinen Abbruch. Der Schrecken liegt in der Normalität.

Mechtild Borrmann: Trümmerkind. Roman. Droemer Knaur Verla g, München 2016. 304 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.

© SZ vom 17.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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